Wir besuchen relativ häufig Suchtstationen von Krankenhäusern, wo wir mit Akutpatienten ins Gespräch kommen. Gar nicht so sehr, um sie davon zu überzeugen, sich zukünftig St.-Pauli-Spiele anzugucken. Wir versuchen, Menschen deutlich zu machen, dass Lebensfreude, Spaß und Glück eben auch ohne Suchtmittel funktioniert.
St. Paulis weiß-braune Kaffeetrinker*innen
Seit 25 Jahren gibt es die weiß-braunen Kaffetrinker*innen beim FC St. Pauli. © Imago / Zoonar
Nüchterne Fans
06:03 Minuten
Bratwurst und Bier: für viele Fußballfreunde ein „Muss“ beim Stadionbesuch – aber nicht für alle. So gibt es beim FC St. Pauli in Hamburg die weiß-braunen Kaffeetrinker*innen, die Fanclub und Selbsthilfegruppe zugleich sind.
Der Fanladen des FC St. Pauli im Stadion am Millerntor nahe der Hamburger Reeperbahn beherbergt verschiedene Faninitiativen des Hamburger Fußball-Zweitligisten. Eine davon ist eine ganz besondere: die weiß-braunen Kaffeetrinker*innen.
Michael Krause, ihr Sprecher, erklärt, was es damit auf sich hat:
„Die allermeisten Mitglieder sind traditionelle trockene Alkoholiker. Aber mittlerweile gibt es bei uns auch Mitglieder aus dem Bereich illegale Drogen. Es gibt Menschen mit Doppeldiagnose, sprich Depression und Suchterkrankung. Es gibt Menschen, die eher aus dem Bereich Spielsucht kommen. Und darüber hinaus haben wir seit mehreren Jahren auch etliche Mitglieder, die überhaupt keine Suchterkrankung aufweisen, aber einfach unser Motto toll finden.“
Fanklub und Selbsthilfegruppe zugleich: Das wäre wohl schwer vorstellbar in einem anderen Verein als dem FC St. Pauli. Der Kiezverein gibt sich schließlich alternativ, aktivistisch, politisch.
Fußball ohne Alkohol, ohne Rausch
Fußball ohne Alkohol, ohne Rausch: Das ist bei den weiß-braunen Kaffeetrinkern sogar musikalisch Programm. Die Kölner Punkband Raptus hat ihnen einen Song gewidmet. Er heißt: „Heiter in die Abstinenz“.
Die Treffen der Gruppe heißen Kaffeeklatsch. Jeden zweiten Montag im Monat am frühen Abend trifft sich die Gruppe, der insgesamt 25 aktive und 15 Fördermitglieder angehören. 60 Euro beträgt der Jahresbeitrag.
Und zu besprechen gibt es bei diesen Treffen eine Menge. Über ein Fußballturnier der St.-Pauli-Fanklubs wird gesprochen, über ein gemeinsames Spargelessen. Und über einen alkoholfreien Getränkestand im Stadion.
Jessica Obertopp-Ulm ist die einzige Frau in der Runde. 40 Jahre alt ist die Krankenschwester, sie ist das jüngste Mitglied des Fanklubs. Vor zwei Jahren kam sie dazu.
St.-Pauli-Fan ist sie seit der Saison 2005/2006. Damals warf der damalige Drittligist im DFB-Pokal Gegner aus höheren Ligen reihenweise aus dem Wettbewerb.
„Als St. Pauli im Pokal war und alles weggeknallt hat, was mit B anfängt, ob Hertha BSC oder Bremen: Das hat mich irgendwie mitgenommen. Die Atmosphäre war eine ganze besondere Atmosphäre. Da war ohne Ende Party am Millerntor, das hat mich einfach mitgerissen.“
Das Stadion als ein Hochrisiko-Ort
Seit 25 Jahren gibt es den Fanklub. Zwei Dauerkarteninhaber, die sich zufällig in einer Entzugsklinik trafen, gründeten ihn. Damals rieten Therapeuten noch, dass Suchtkranke um ihre vorherigen Trinkorte einen weiten Bogen machen sollten. Ein Stadion gilt für Alkoholkranke als Hochrisiko-Ort.
Die Abkehr von Suchtmitteln hinterlässt meist eine große Lücke. Gemeinsam Fußball zu schauen ist für die Mitglieder des Fanklubs ein Weg, diese Lücke zu füllen.
Der Kaffeeklatsch klappt auch virtuell
Die SARS-CoV-2-Pandemie war auch für die Kaffeetrinker eine Herausforderung. Erst gab es keine Spiele, dann Geisterspiele. Treffen im Fanladen waren nicht möglich.
Die Kaffeetrinker setzten auf virtuelle Treffen. Dass dies klappte, ist für Wolfgang Strippgen ein Indiz dafür, dass der Fanklub intakt sei. Der ehemalige EDV-Experte, mittlerweile Rentner, ist seit 22 Jahren dabei. Lange war er der Vorsitzende der Gruppe. Eine klare Struktur habe ihm geholfen, sich ohne Alkohol zurechtzufinden. Auf die Gruppe stieß er während eines Entzuges:
„Das traf bei mir auf reges Interesse, weil ich im Grunde genommen über den Alkohol zu St. Pauli gekommen bin. Ich habe mich durch sogenannte Freunde aus meiner Stammkneipe mal verleiten lassen, ins Stadion mitzugehen. Die hatten mir das schmackhaft gemacht.“
Nun steht das Spiel im Mittelpunkt
Damals, sagt Wolfgang Strippgen, berauschte er sich am Alkohol. Heute ist das Spiel für ihn in den Mittelpunkt gerückt. Diese Erfahrung teilt auch Jessia Obertopp-Ulm. Den Fußball entdeckt sie seitdem von Grund auf neu.
„Früher habe ich nicht nur 22 Leute auf dem Feld gesehen, sondern 44. Das war nicht immer toll. Ja, ich mag kaum noch dran zurückdenken. Es ist schon ein anderes Erleben. Man erlebt das intensiver und weiß auch nächsten Tag, was gelaufen ist. Ja, das ist doch sehr erfrischend.“
„Früher habe ich nicht nur 22 Leute auf dem Feld gesehen, sondern 44. Das war nicht immer toll. Ja, ich mag kaum noch dran zurückdenken. Es ist schon ein anderes Erleben. Man erlebt das intensiver und weiß auch nächsten Tag, was gelaufen ist. Ja, das ist doch sehr erfrischend.“