Sara Maitland: Das Buch der Stille. Über die Freuden und die Macht von Stille
Übersetzt von Karin Petersen
edition steinrich, Berlin 2017
400 Seiten, 24,90 Euro
Von der Sehnsucht nach dem Alleinsein
Wie fühlt sich das an, an entlegenen Orten nur noch von Stille umgeben zu sein? Wenn man wochenlang schweigt? Die Schriftstellerin Sara Maitland erzählt in "Das Buch der Stille" von der Sehnsucht nach Alleinsein - und was diese mit ihr gemacht hat.
Wüsten, in denen man nur noch das eigene Blut rauschen hört. Wälder, so dunkel, dass aus jedem Zweig ein Flüstern aufzusteigen scheint. Bergspalten, in denen ein Mensch sein Leben verbringen kann, ohne dass andere ihn dort aufspüren. Orte, die Sara Mailand besucht hat und von denen sie in ihrem ungewöhnlichen "Buch der Stille" schreibt. Ein Buch, in dem sie versucht mit Hilfe der Literatur, Philosophie, Religion und Mythologie das Wesen der Stille zu ergründen.
Der moderne Westen fürchtet sich vor der Stille, hat ein Schild permanenter Betriebsamkeit gegen das nackte Selbst errichtet und ist dabei doch von Stille umgeben, betont die Autorin gleich zu Anfang: Noch immer wächst ein Garten still. Zellen teilen sich still und ebenso tasten sich winzige Pilzsporen voran, bis sie Pflastersteine hochheben.
Schwerkraft, Elektrizität, Licht, selbst die Drehung der Erde ereignet sich still: Mit mehr als 100.000 Stundenkilometern rast sie um die Sonne – in völliger Lautlosigkeit.
Das Gefühl, Teil einer umfassenden Ordnung zu sein
Berührend erzählt die lebhafte Feministin und Politaktivistin davon, wie sie überfallen wurde von der Sehnsucht nach Alleinsein und Schweigen. Wie diese Sehnsucht sie erst in ein Cottage auf dem Land, dann auf die zerklüftete Insel Skye und schließlich an immer entlegenere Orte führte.
Minutiös beobachtet die Engländerin, was wochenlanges Schweigen in ihr auslöst: körperliche und psychische Empfindungen werden intensiver. Das Gefühl, Teil einer umfassenden Ordnung und mit ihr verbunden zu sein, stellt sich ein. Dazu eine riskante Lust auf Wagnisse – und oft reine Glückseligkeit.
Dass es nicht nur ihr so ergeht, belegt die Autorin mit einer Fülle an Zeugnissen: aus religiösen Eremitagen und Schweigeklöstern, von Weltumseglern, Schiffbrüchigen, verloren gegangenen Bergsteigern, Schriftstellern, die im Wald zu schreiben aufhörten, und Philosophen, die den Glauben an die Macht des Gedankens verloren.
Stimmen im Wind - und im eigenen Kopf
Denn Stille hat auch eine dunkle Seite. Ein Hang zur Verwahrlosung ergreift Sara Maitland. Wie wäre es, fragt sie sich, wenn sie sich nie mehr waschen, nie mehr ihr Zimmer aufräumen müsste. Sie hört Stimmen im Wind, der durch die Landschaft fegt, aber auch in ihrem eigenen Kopf.
Das ist nicht unüblich: Von neun Teilnehmern der ersten Regatta zur Weltumseglung erreichte nur einer das Ziel. Zwei erlitten Schiffbruch, alle anderen hielten es mit sich selbst nicht mehr aus. Sie verloren den Verstand, verließen die Route und kehrten nie mehr zurück.
Sara Maitland, die sonst als Schriftstellerin Prosawerke verfasst, hat hier ein reiches erzählendes Sachbuch geschrieben, das im englischen Original nominiert wurde als das schottische Sachbuch des Jahres. Kein Wunder, lotet sie doch gekonnt die zahllosen Schattierungen der Stille aus, ohne sie je zu zerreden.
Stille, das wird bald klar, ist nicht die Abwesenheit von Lauten: Stille klingt am Strand anders als in den Bergen, nach dem Regen anders als im Schnee. Stille kann Angst erzeugen oder heilige Ehrfurcht. Vielleicht, so Sara Maitland, gibt es sogar ganze Symphonien der Stille. Ihr Buch lässt das glauben.