Sara Stridsberg: "Das große Herz." Roman
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Verlag Carl Hanser, München 2017
319 Seiten, 23 Euro
Papa ist Stammgast in der Psychiatrie
Was macht eine Vierzehnjährige, deren Vater als Alkoholiker in der Psychiatrie landet? Sara Stridsberg versucht in ihrem neuen Roman, die Irrwege einer Familie, die keine mehr ist, Schicht um Schicht freizulegen. Herausgekommen ist ein Roman voller Trauer und Liebe.
Sara Stridsberg, 1972 bei Stockholm geboren, ist gegenwärtig Schwedens interessanteste Schriftstellerin. Ihre exzellenten Romane "Traumfabrik" über die Radikalfeministin Valerie Solanas - wofür sie den Nordischen Literaturpreis erhielt - und "Darling River" über Nabokovs Lolita sind bereits auf deutsch erschienen (bei S.Fischer).
In ihrem dritten Roman auf Deutsch beschreitet sie einen neuen Weg. Hier behandelt sie nicht eine bekannte Figur, sondern eine durchschnittliche Familie, die gescheitert ist. Das Besondere: es muss sich um die eigene Familie handeln. Der schwedische Originaltitel lautet nämlich: "Beckomberga. Ode till min familj". Beckomberga, in den frühen 1930er-Jahren eröffnet, war bis zu ihrer Schließung 1995 Schwedens (zeitweise sogar Europas) größte Nervenheilanstalt. Hier spielt Sara Stridsbergs neuer Roman.
In der Anstalt herrschen sowohl Elend als auch Geborgenheit
Ich-Erzählerin ist Jackie, die vierzehn ist, als ihr Vater Jim wegen Alkohol- und Tablettenmissbrauchs in Beckomberga eingeliefert wird. Nach und nach wird sie hier Stammgast, fast täglich besucht das junge Mädchen den Vater in der Anstalt, die Mutter Lone ist ohnehin kaum zu Hause, sondern reist lieber in der Weltgeschichte umher.
Jackie lernt andere Patienten und das Personal kennen – und dank ihrer Jugend nimmt sie sie so, wie sie sind. Den Arzt Edvard, der sich gut mit Jackies Vater Jim versteht und gern mit jungen Patientinnen ausgeht, oder die Krankenschwester Inger, die den Schlüssel zum Medikamentenschrank hat, und die junge gebildete Patientin Sabina, zu der Jim eine besondere Beziehung knüpft. In der Anstalt herrschen eben nicht nur Elend, sondern auch Aufmerksamkeit und Geborgenheit. Ein besonderer Fall ist Olof, der sich fast sein ganzes Leben hier aufhielt, die Anstalt ist sein Leben. Angesichts der staatlich verordneten Schließung und damit seiner drohenden Entlassung stürzt er sich von einem Sendemast.
In szenischen Kapiteln aus den 1980er-Jahren und der heutigen Zeit - mittlerweile ist Jackie selber Mutter geworden -, mit hineinmontierten Passagen zu Geschichte und Architektur von Beckomberga – eine für Stridsberg typische Vorgehensweise –, wird uns mit "großem Herzen" eine Geschichte erzählt, deren einzelne Passagen und Schilderungen immer zwei Seiten haben: Leid und Freude, Licht und Schatten.