Sarah Emmerich: "La suivante"

"Massenvernichtung ist nur eine Frage des Zeitpunkts und des Ortes"

Cover des Romans "La suivante" von Sarah Emmerich.
Die Autorin des kafkaesken Romans ist Tochter eines ungarischen Juden, der von den Nazis deportiert wurde. © Verlag Flammarion / imago
Von Dirk Fuhrig |
Im Buch "La suivante" beschreibt die französische Schriftstellerin Sarah Emmerich ihr Leben als Tochter eines Holocaust-Überlebenden. Ihre Entscheidung, diesen bewegenden Roman zu schreiben, der wie ein Krimi beginnt, fiel an ihrem 50. Geburtstag.
Es beginnt wie ein Psychokrimi. Eine Frau fühlt sich verfolgt. Wenn sie durch die Straßen geht, blickt sie sich immer wieder um. Sie fühlt: Da ist jemand.
"Es ist keine Kriminalgeschichte. Obwohl ich in meinem Buch ein paar Elemente des Genres aufgreife", sagt Sarah Emmerich. Liest man weiter, merkt man: Es geht um sehr viel mehr.
"'La suivante' ist ein mehrdeutiger Titel. Es geht um eine Frau, die spürt, dass ihr eine andere Frau auf Schritt und Tritt folgt. Gleichzeitig ist meine Heldin Agnès Katz aber auch eine 'Nachfolgerin' – nämlich die Tochter eines Überlebenden von Auschwitz."

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Psychologisch fein komponierte Handlung

La suivante – das kann also "die Verfolgerin" bedeuten, ebenso wie "die nachfolgende Generation". Sarah Emmerich, die Autorin dieses kafkaesken Romans, ist selbst Tochter eines ungarischen Juden, der in Budapest von den Nazis verhaftet und deportiert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute ihr Vater sich eine Existenz in Frankreich auf. Ihr Nachname erinnert an deutschsprachige Vorfahren: Emmerich – im Französischen eben "Emmeric" ausgesprochen.
Die psychologisch fein komponierte Romanhandlung ist stark von autobiografischen Elementen bestimmt:
"Nicht alles ist Fiktion. Tatsächlich habe ich an dem Tag, als mein Vater beerdigt wurde, zwei VHS-Kassetten erhalten – damals gab es das noch, das war 1996. Die steckten in meinem Briefkasten. Mein Vater hatte das Interview zwei Monate vor seinem Tod mit der Spielberg-Stiftung geführt."
Die Stiftung wurde von dem US-amerikanischen Regisseur Steven Spielberg gegründet, sie sammelte ursprünglich für dessen Film "Schindlers Liste" Zeitzeugen-Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden.

Besuch in der Normandie

Sarah Emmerich lebt heute in Paris. Wir führen unser Gespräch aber in einem kleinen Ort in der Normandie. Sanfte Hügel, viel Grün, ein See. Der Regionalzug hält nur dreimal am Tag. La France profonde – wie in einem Film. Ein Freund von ihr feiert in dieser französischen Landidylle seinen 50. Geburtstag. Auch für Sarah Emmerich war dieses Jubiläum – bei ihr vor zwei Jahren – ein entscheidender Moment. Damals fasste sie den Entschluss, den Roman, den sie in einer Rohfassung lange Jahre in der Schublade hatte, zu veröffentlichen.
Mit ihrer prägnanten, tiefen Stimme erzählt sie, wie das Schicksal ihres Vaters ihre eigene Jugend geprägt hat:
"Mein Vater hat nicht überlebt, um Versager auf die Welt zu bringen – wir mussten um jeden Preis erfolgreich sein. So, als gäbe es eine innere Logik. Man versteht das als Kind zuerst natürlich nicht. Die 'Suivante' in meinem Roman hat sich dafür entschieden, in der Politik zu arbeiten. Sie schreibt Reden für Politiker."
... genauso wie Sarah Emmerich selbst.

Angst vor neuem Antisemitismus

Sarah Emmerich – modisch kurzer Haarschnitt, aus dem ein paar graue Strähnen hervorleuchten; markantes Gesicht – hat Politikwissenschaften studiert und arbeitete viele Jahre als eine Art "master mind" für den sozialistischen Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë. Daher tauchen auch in ihrem Roman viele aktuelle Anspielungen auf den Zustand der französischen Gesellschaft auf.
"Meine Heldin hält Ausschau danach, ob sich die Geschichte nicht wiederholt: Nationalsozialismus, Faschismus, Verfolgungen – vielleicht nicht zwangsläufig der Juden. Wenn wir uns hier in Frankreich umschauen, wie mit den Flüchtlingen umgegangen wird. Wie darüber geredet wird, dass sie das Land 'überschwemmen'. Sie ist hypersensibel, was all diese Dinge anbetrifft. Sie fragt sich nicht, ob sich das alles wiederholt, sondern wann es wieder soweit sein wird."
Viele französische Juden überlegen seit Jahren, ob sie das Land nicht verlassen sollen. Aus Angst vor neuem Antisemitismus: Der Überfall auf eine jüdische Schule in Toulouse, der Anschlag auf den jüdischen Supermarkt nach dem Charlie-Hebdo-Attentat. Zuletzt der Mord an Marielle Knoll, die von ihrem arabischstämmigen Nachbarn erstochen wurde. Die 85-Jährige war eine Holocaust-Überlebende – so wie der Vater von Sarah Emmerich.
"Massenvernichtung ist nur eine Frage des Zeitpunkts und des Ortes: Es passiert in Ruanda, in Zentralafrika, in Syrien, im Jemen, überall. Meine Romanheldin nimmt das besonders stark wahr, denn sie erinnert sich daran, mit welcher Gleichgültigkeit die Judenvernichtung hingenommen wurde und sie weiß, mit welchem Schulterzucken man einem Massaker zuschaut, so lange man nicht selbst betroffen ist oder man glaubt, nicht betroffen zu sein."
Natürlich kommen wir auch auf den Front National in Frankreich und auf die AfD zu sprechen:
"Ich habe einen wahnsinnigen Hass auf alles, was Nationalismus oder Patriotismus heißt. Wenn man mich fragt, ob ich stolz darauf bin, Französin zu sein, dann sage ich: Nein. Es ist mit Sicherheit besser, als in Botswana aufzuwachsen. Und natürlich finde ich es gut, dass ich die französische Sprache beherrsche. Aber stolz? Wie kann man stolz darauf sein, zufällig an diesem oder jenem Ort geboren zu sein?"
In Sarah Emmerichs brillant geschriebenem Buch über Verfolgungswahn und den langen Arm der Vergangenheit tauchen all diese Fragen auf: die Veränderungen des politischen Systems, der Rechtsradikalismus, der Umgang mit Flüchtlingen, der Nationalismus – von all dem fühlt sich die Heldin in "La suivante" ebenso verfolgt wie von der Erinnerung an den Holocaust.

Der Roman "La suivante" liegt bislang nur auf Französisch vor. Er ist 2018 im Verlag Flammarion erschienen.

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