Sarah Kirsch/Christa Wolf: "Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt"

Wie Politik Freundschaft zerstört

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Auf dem Cover ist ein Foto auf hellem Hintergrund zu sehen. Darauf Sarah Kirsch und Christa Wolf, die vor einer Wand in Fachwerkoptik sitzen.
"Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt" zeugt von einer Freundschaft, die eigentlich unzerstörbar schien, und dann doch endete. © Cover: Suhrkamp
Helmut Böttiger |
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Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall kann man noch Entdeckungen machen. Der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf eröffnet ungeahnte Perspektiven auf Ost und West. An der Wende zerbrach das Verhältnis der beiden Schriftstellerinnen.
30 Jahre nach dem Fall der Mauer wirkt es so, als sei wirklich schon alles darüber gesagt. Da überrascht der Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Sarah Kirsch, nun erschienen unter dem Titel "Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt" in mehrerer Hinsicht.
Ost und West erscheinen hier in einer ungeahnten Perspektive, aus der Innensicht zweier Schriftstellerinnen, die zu den bedeutendsten ihrer Gegenwart gehörten und die durch ihre gemeinsamen Erfahrungen in der DDR lange verbunden waren. Man bekommt tiefe Einblicke in das Seelenleben der beiden, die man so nicht erwartet hätte.
Und gleichzeitig rückt einem die Dimension des Politischen auf bedrängende Weise nah – sie kann eine Freundschaft zerstören, die bis wenige Seiten und wenige Wochen vor dem Ende dieses Briefwechsels eigentlich unzerstörbar schien.

Unstetes Liebes- und Bohemienleben

Sarah Kirsch war eine junge, unbekannte Lyrikerin, die von Christa Wolfs Ehemann Gerhard entdeckt und gefördert wurde. Der Altersunterschied zwischen den beiden Schriftstellerinnen beträgt nur sechs Jahre, aber von Anfang an spürt man große Unterschiede: die abwägende, nachdenkliche Christa Wolf, deren Ehe unzerrüttbar und glücklich wirkt, und die verspielte, aber auch rigorose und aufs Ganze gehende Sarah Kirsch, der die Ehe mit Rainer Kirsch nach einiger Zeit zu langweilig wird und die ein unstetes Liebes- und Bohemienleben führt.
Geradezu mütterlich und souverän geht Christa Wolf auf Sarah Kirschs bewegte emotionale Pegelstände in Beziehungshändeln mit Karl Mickel, Wolfgang Kohlhaase oder Christoph Meckel ein.
Eine entscheidende Phase der Beziehung taucht in diesem Briefwechsel kaum auf: Sarah Kirschs Ausreise aus der DDR 1977. Es gab natürlich Telefongespräche und persönliche Begegnungen, die im Briefwechsel ausgespart bleiben und auch kaum rekonstruiert werden können. Es gibt hier eine erste atmosphärische Entfremdung, die dann aber einer neuen Vertrautheit und Sehnsucht weicht.
Vielleicht sind die Briefe aus den achtziger Jahren, als beide ihre gemeinsame Vergangenheit in der mecklenburgischen Abgeschiedenheit beschwören, die bewegendsten Zeugnisse ihres Dialogs.

Ein Stasispitzel in privatester Umgebung

Christa Wolfs "Sommerstück" wie auch Sarah Kirschs Prosa "Allerlei-Rauh" beschreiben vor allem den gemeinsamen Sommer 1975, und der Briefwechsel erklärt vieles von dem, was diese beiden im Grunde äußerst verschiedenen Frauen miteinander verband.
Dann aber, recht abrupt, kommen die unterschiedlichen Bewertungen der Zeit der Wende 1989/90: Sarah Kirsch erscheint unversöhnlich und radikal, Christa Wolfs Versuche, sich zu erklären, wirken dagegen in ihrem werbenden Charakter sehr berührend.
Politik und Literaturbetrieb trennen die beiden gleichermaßen, auf fundamentale Weise. Aber das wird erst in der kurzen Zeit nach der Wende deutlich. Es ist tragisch, wie Christa Wolf gezwungen wird, damit umzugehen, dass in ihrer privatesten Umgebung ein Stasispitzel platziert war.
Dieser Briefwechsel ist ein beeindruckendes Zeugnis und scheint sogar auf etwas Allgemeineres zu verweisen. Beide haben auf ihre Weise Recht, aber ihre intensive, bewegende Freundschaft musste zerbrechen.

Sarah Kirsch/Christa Wolf: "Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt." Der Briefwechsel
Hrsg. von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019
420 Seiten, 32 Euro

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