Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte

Rezensiert von Helmut Böttiger |
Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen unserer Zeit. Nun präsentiert die Deutsche Verlags-Anstalt sämtliche Gedichte und lädt zum Wiederlesen und Neuentdecken ein.
Als Sarah Kirsch auftauchte und mit Hexen daherkam, mit stürmischen Geliebten und mit der Verheißung eines "Gammlersommers", da war es mit der DDR fast schon vorbei. Die Lyrikerin hatte die Dreißig knapp überschritten, man schrieb das Ende der sechziger Jahre.

"Landaufenthalt" hieß der Band, der 1967 herauskam, 1973 folgten "Zaubersprüche". Nichts mehr war da zu spüren vom Pathos des Realismus. Plötzlich schien eine Märchenfee gekommen zu sein, von einem ganz anderen Stern. Sarah Kirsch hatte viel gelernt von der "Volkstümlichkeit" im Sinne Brechts, vom Liedhaften und den eingängigen Bildern der Bibel, und sie richtete ihre Verse gegen die hohlen Phrasen des Staatswesens.

1977 verließ Sarah Kirsch die DDR. Vorher hatte sie noch den Band "Rückenwind" veröffentlicht. Dort findet sich der Zyklus "Wiepersdorf": das war das Schloss von Bettina und Achim von Arnim und in der DDR dann ein staatlich getragenes Schriftsteller-Refugium. Das Leben der Bettina, die es als städtisch und künstlerisch orientierte Frau genauso schwer auf dem flachen Land wie überhaupt im königlichen Preußen aushielt, verschmilzt immer mehr mit dem lyrischen Ich aus der DDR-Gegenwart.

Bei diesen eindringlichen Bildern wundert es nicht, dass Sarah Kirsch ihren Staat kurz darauf verließ. Leider erfahren wir in dem Geburtstagsgeschenk, das die Deutsche Verlags-Anstalt seiner Lyrikerin zu ihrem Siebzigsten am 16. April macht, nichts von derlei zeitgeschichtlichen Hintergründen. "Sämtliche Gedichte" heißt das hübsche, mit einem Aquarell von Sarah Kirsch auf dem Titelblatt versehene Buch, und es sind tatsächlich alle Gedichte von "Landaufenthalt" bis zur 2002 erschienenen "Schwanenliebe" darin enthalten. Aber es fehlt nicht nur ein Nachwort, das die Entwicklung dieses Werks nachzeichnet und einordnet, es fehlen sogar die Angaben, wann welcher Gedichtband erschienen ist vollständig zeitlos kommen die Texte daher, und das sind sie, bei aller zeitenthobenen Natur- und Märchenmetaphorik, natürlich ganz und gar nicht.

In den achtziger Jahren geht es um das neue Leben in Schleswig-Holstein: "Erdreich" und "Katzenleben" heißen nun die Bücher. Es ist ein Neuansatz, der auf die alten Naturbilder zurückgreift, doch verhaltener und schütterer wirkt. Vor allem die Bilder der Kälte werden manifest und zu einer existenziellen Größe. Das zurückgezogene Leben im Norden, die Schafe und der Garten es verdichtet sich in Sarah Kirschs Lyrik zu Chiffren. Das geschieht oft recht beiläufig, in dahingetuschten Gelegenheitsgedichten, manchmal aber strahlt es eine suggestive Hermetik aus. "Eine Katze aus / Licht räkelt sich / Unter den Weiden": hier werden die Vorstellungen von "Licht" und "Katze" eins, etwas Flirrendes, nicht genau zu Fassendes. Ein optischer Eindruck wird zu etwas Lebendigem, und das Lebendige bekommt eine magische Kontur. So fangen die besten der späten Gedichte von Sarah Kirsch wieder die unbezähmbare Lust ihrer Anfänge ein.


Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005
559 Seiten, 19,90 Euro