Sarah Moss: Geisterwand
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
Berlin Verlag 2021
160 Seiten. 20 Euro.
Gewalt behält die Oberhand
06:06 Minuten
Im Norden Englands will eine Gruppe moderner Menschen leben wie zur Eisenzeit. Doch schon bald gerät das soziale Experiment zu einem Albtraum aus Nationalismus, Traditionsglaube und Missbrauch. „Geisterwand“ ist eine beunruhigende Studie der Gewalt.
Eine "Geisterwand" aus den Schädeln ihrer Toten haben die in Nordengland ansässigen Stämme als letzten verzweifelten Versuch gebaut, sich gegen die Römer zu verteidigen. Und eine Geisterwand ist es auch, die die 17-jährige Ich-Erzählerin Silvie in Sarah Moss‘ Roman errichtet hat, um die Wahrheit über ihren Vater Bill und ihr Leben nicht anerkennen zu müssen. Aber auch dieser Schutzwall wird nicht halten.
Bill, Silvies Vater, ist Busfahrer. Seine Leidenschaft aber gilt der Frühgeschichte, besonders den Lebensweisen der britischen Stämme, die zur Eisenzeit im Norden Englands gelebt haben. Daher begleitet er den Archäologie-Professor Slade, der mit seinen Studierenden eine Exkursion ins nordenglische Moorgebiet Northumberland macht.
Ein autoritäres Experiment
Sein Ziel: Leben wie damals. Silvie und ihrer Mutter müssen mit; ihr Job ist, zu tun, was Bill sagt. Silvies Vater bestimmt alles und bewertet konstant das Versagen seiner Frau und seiner Tochter. Eine Frau müsse nun einmal "ihren Platz" kennen – und wo der sei, bestimme er. Passt ihm etwas nicht, schlägt er zu. Sein Verhalten bleibt nicht unbemerkt – aber einzig die Studentin Molly spricht offen aus, wie archaisch dieses Weltbild ist.
Nicht nur Antike und Moderne treffen in diesem Roman aufeinander. "Geistwerwand" ist durchzogen von Spannungsfeldern zwischen sozialen Klassen, zwischen dem Norden und Süden Englands, zwischen praktischem und akademischen Wissen.
Mittendrin steckt Silvie, die versucht, den Vater nicht zu erzürnen und zugleich fürchtet, jemand könnte herausfinden, was los ist. Sie schämt sich und hat die Entschuldigungen und Rechtfertigungen ihrer Mutter gleichermaßen verinnerlicht.
Allgegenwärtige Gewalt
Was die Ich-Erzählerin mit ihrem Vater teilt, ist die Liebe zur Natur, zu den alten Lebensweisen. Im Gegensatz zu ihm muss sie aber nicht besitzen, was sie liebt. Sie strebt nach Unabhängigkeit, wird aber von ihren Eltern zurückgehalten. Silvie will ein eigenes Leben haben und der Kontrolle ihres Vaters entkommen. Andererseits sitzt die Angst vor ihm tief, ihr Selbstwertgefühl ist angegriffen.
Silvie ist eine komplexe Erzählerin in einem ungemein dichten Roman, der durchzogen ist von einem Mit- und Gegeneinander. Bis hinein in die atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen finden sich die Hinweise auf die allgegenwärtige Gewalt, die auch in der Natur stattfindet.
Gewalt, die damals zum Leben gehörte und die – zumindest Bills Überzeugung nach – auch heute noch dazu gehört. "Geisterwand" zeigt, dass es von den Opferritualen der Eisenzeit nur ein kurzer Sprung zur häuslichen Gewalt der Gegenwart ist.