Spiritualität ist längst zu einem Konsumgut geworden.
Spiritueller Schiffbruch
Krisen fördern die Suche nach Sinn. Klingt nach Binsenweisheit, wird aber durch viele Untersuchungen bestätigt. © unsplash / Marek Piwnicki
Nicht ohne meinen Wahrsager
11:53 Minuten
Gerade in der Krise suchen viele Menschen nach Sinn und Deutung. Der Markt für spirituelle Angebote ist groß. Er kann echte Bedürfnisse stillen, sagt die Psychologin Sarah Pohl. Aber es besteht auch die Gefahr, spirituellen Schiffbruch zu erleiden.
Kirsten Dietrich: Krisen fördern die Suche nach Sinn. Das ist eine dieser Binsenweisheiten, die aber durch alle Untersuchungen bestätigt werden. Das heißt aber umgekehrt auch: Wer auf der Suche nach Sinn ist, wer vielleicht neue, grundlegende Orientierungen im Leben braucht, ist oft in einer verletzlichen Situation. Krisen machen offen für Neues, aber sie machen eben auch anfällig für schlechte Entscheidungen und für Versprechen von dubiosen Sinnanbietern.
Für das, was daraus folgen kann, hat Sarah Pohl einen tollen Ausdruck gefunden: spiritueller Schiffbruch. Sarah Pohl leitet die zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen in Baden-Württemberg. Wie erleben Sie das in Ihrer Beratungsstelle: Ist Sinnsuche eher eine Chance oder eine Gefahr?
Pohl: In unserer Beratungsstelle rufen vor allem Menschen an, für die Sinnsuche zum Schiffbruch geworden ist. Wir bekommen tatsächlich eher eine defizitorientierte Perspektive mit von Menschen, die auf dem Markt der Sinnanbieter an Menschen geraten sind, die ihnen nicht guttaten, die Angebote konsumiert haben, die in Abhängigkeiten geführt haben. Aber ich denke, diese ganzen Menschen, die sich nicht bei uns melden, erleben sicherlich auch für sich Sinn und Ressource drin.
Dietrich: Sinnsuchende suchen Spiritualität. Warum ist gerade das so ein anziehendes Versprechen?
Pohl: Spiritualität ist in unserer Zeit ein Modewort geworden. Es ist auch ein etwas schwammiger Begriff. Unter Spiritualität stellen sich Menschen jeweils unterschiedliche Dinge vor. Spiritualität siedelt im Gegensatz zu Religion sehr viel stärker auf einer individuellen, ganz persönlichen Ebene an.
Spiritualität kann sich jeder selber im Sinne einer Patchwork-Religion zusammenbauen. Zumindest heutzutage ist Spiritualität sehr stark erlebnis- und auch eventbezogen. Auch ist sie stark vereinnahmt von der Wellness-Industrie, die diesem ganzen spirituellen Tanz auch noch mal kräftig Aufschub verliehen hat.
Individueller als Religion, positiver als Therapie
Dietrich: Das heißt, es ist weniger dogmatisch als Religion, klingt aber wahrscheinlich auch weniger leidend und anstrengend als Therapie, oder?
Pohl: Ja! Spiritualität kann sozusagen jeder für sich haben. Religion ist eher etwas Übergreifendes, etwas Institutionsbezogenes, würde ich sagen. Religion hängt immer mit einer bestimmten Institution zusammen. Spiritualität kann ich für mich selber entdecken, erleben, mir selber zusammensuchen – und natürlich: In manchen Fällen geschieht es auch, dass zum Beispiel psychische Krisen spiritualisiert werden. Das erleben wir auf diesem ganzen Markt immer mal wieder.
Spiritualität "to go"
Dietrich: Sie richten sich mit Ihrer Arbeit an "spirituelle Endverbraucher", noch so ein schöner Begriff. Sie machen also eine Art spirituelle Verbraucherberatung. Vor 20 Jahren hätte das noch Sekteninformationen geheißen und einen warnenden Unterton gehabt. Was hat sich seitdem verändert?
Pohl: Jede Menge. Wir erleben eine sehr viel stärkere Individualisierung. Mittlerweile gibt es auch Studien, die darauf hinweisen, dass jeder siebte Deutsche sich als spiritueller Sinnsucher bezeichnen würde. Viele Menschen sind spirituelle Wanderer und loten für sich Angebote aus.
Und es ist gar nicht mehr so wie früher, dass eine enge Anbindung an Gruppierungen "in" ist. Die Menschen entwerfen sich sehr viel stärker individualisiert ihre DIY-Religion und ihren DIY-Glauben. Diesen Prozess können wir gut beobachten. Hier findet eine Subjektivierung statt.
Analog dazu sehen wir auch einen Markt, der genau diese Bedürfnisse bedient. Spiritualität ist längst zu einem Konsumgut geworden. Sie wird vermarktet und verkauft und hat sich in ihrer Erscheinungsform auch ein Stück weit an die Schnelllebigkeit unserer Zeit angepasst. Auf dem spirituellen Markt gibt es zum Teil eine regelrechte "To Go"-Mentalität. Man möchte schnell konsumieren. Es soll nicht wehtun. Es soll erfahrungsbezogen sein. All das sind neue Phänomene, mit denen wir es hier zu tun haben.
Echt oder unecht, das ist "schwer zu beurteilen"
Dietrich: Das heißt, was früher der bärtige Guru mit der Gebetskette war, das ist heute der durchgestylte Lifecoach mit den smarten Versprechen für das erfolgreiche Leben. Kann man da überhaupt noch fragen, ob das wirklich echte Spiritualität ist? Oder ist das eine falsche Frage, die in dieses Marktgeschehen und die individuelle Sinnsuche gar nicht hineinpasst?
Pohl: Ich glaube, ich würde mich weit aus dem Fenster lehnen, wenn ich jetzt jemandem ein Siegel gebe: echt oder unecht. Das ist schwer zu beurteilen. Aber ich denke, Vermarktung spielt einfach eine wichtige Rolle. Das macht dem Endverbraucher zunehmend schwerer zu unterscheiden, worum es dem Anbieter wirklich geht.
Das macht es auch für uns als Professionelle manchmal wirklich schwer zu unterscheiden: Meint er das jetzt wirklich ernst? Steckt da eine echte Motivation dahinter? Ich glaube, darum geht es viel weniger. Es geht eher darum, Menschen vielleicht ein bisschen zu unterstützen und zu gucken, was zu einem passt und wonach man eigentlich sucht. Passt dieses Angebot wirklich oder müsste ich mich vielleicht noch mal woanders umschauen?
Spiritualität kann Probleme verdecken
Dietrich: Ist dann inhaltlich egal, was angeboten wird? Ob jemand Edelsteintherapie oder Aura-Lesen oder Kartenlegen oder Glückscoaching macht – Hauptsache, es passt zur jeweiligen Lebenssituation?
Pohl: Das ist nicht so ganz egal, sondern es können sich dabei auch immer wieder Risiken ergeben und Konzepte eben doch nicht so wirklich gut passend sein.
Es kann auch schnell passieren, dass etwa eine psychische Krise spiritualisiert wird. Oft ist eine Krisensituation ja ein Anlass, sich auf die Suche zu machen, weil es einem nicht gut geht, weil man eben noch mal nach Sinn sucht.
Genau aus diesen Krisen heraus kann Spiritualität eine Chance sein, aber genauso Risiko, weil in solchen Zeiten die Vulnerabilität hoch ist, eine Abhängigkeit entstehen kann und Menschen in diesen Zeiten vielleicht noch schwieriger unterscheiden können, ob ihnen dieses gebuchte Angebot wirklich gut tut. Oft ist es auf den ersten Blick vielleicht ein Stück weit harmlos, wellnessorientiert und tut nicht besonders weh. Manchmal verhindert aber gerade diese Wellness-Orientierung eine wirkliche Weiterentwicklung mit Themen, bei denen es gut wäre, die sich mal ein bisschen genauer anzugucken – vielleicht auch mit einer psychologischen Unterstützung.
Risiko Schwarz-Weiß-Denken
Dietrich: Es ist natürlich die Frage, wie man dann unterscheidet, was einem guttut und was nicht. Sie haben ihr Buch "Spiritueller Schiffbruch" für Menschen in Sinn-Not und für ihre Angehörigen geschrieben. Als eines der wenigen wirklich handfesten inhaltlichen Kriterien, bei denen Warnzeichen läuten sollten, nennen Sie darin, wenn eine Gruppe ihren Mitgliedern konsequent den Kontakt nach außen verbietet. Gibt es weitere Zeichen, bei denen man hellhörig werden sollte?
Pohl: Es gibt durchaus weitere Risikofaktoren. Einmal haben wir gruppenbezogene Risikofaktoren, dass Gruppierungen Abhängigkeiten begünstigen, aber dass zum Beispiel auch ein hoher Spendendruck besteht oder eine gewisse demokratiefeindliche Richtung in eine Gruppierung reinkommt.
Schwarz-Weiß-Denken ist ein ganz wichtiger Punkt. Dass Schwarz-Weiß-Denken von Gruppierungen oder Anbietern gefördert wird, entlastet vielleicht mal kurzfristig, weil die Welt dadurch ein bisschen einfacher wird. Aber langfristig ist es nicht wirklich günstig, um wirklich multiperspektivisch unterwegs zu sein.
Abhängigkeiten zu bestimmten Gurus erleben wir immer wieder, zu bestimmten Anbietern, ein Suchtverhalten zum Teil, dass Menschen wirklich ohne ihren Wahrsager oder irgendwelche esoterischen Produkte nicht mehr zurechtkommen. Das tritt immer häufiger auf. Ich finde, das wurde bis jetzt auch nicht wirklich viel thematisiert.
Es kommt darauf an, den anderen zu verstehen
Dietrich: Religionsfreiheit kann auch heißen, dass jemand von dieser Freiheit keinen Gebrauch machen will und sich zum Beispiel ganz freiwillig strengsten Regeln unterwirft. Das ist einer der Merksätze aus Ihrem Buch, die ich theoretisch ganz richtig finde, die praktisch aber doch sehr unangenehm werden können. Denn was mache ich, wenn mein Vater zum Beispiel auf einmal einen latent rechtsextremen Verschwörungsglauben hat oder meine Freundin Tausende von Euro zu irgendeinem Meditationscoach trägt?
Pohl: Das bedeutet nicht, dass man nichts tun sollte und kann. Aber es kommt darauf an, sich noch mal klarzumachen: In welcher Phase steckt er gerade? Hat er das Angebot oder diese Philosophie gerade ganz neu für sich entdeckt? Dann ist es oft sehr, sehr schwer, mit Kritik an den ranzukommen.
Ich nenne das manchmal den "Romeo und Julia"-Effekt. Wenn jemand frisch verliebt ist, dann möchte er keine Kritik über seinen neuen Partner hören. Wenn jemand ganz frisch ein Angebot für sich entdeckt hat, tut sich das Umfeld oft sehr schwer, mit Kritik zu landen. Meistens treibt eine Kritik auch noch stärker in die Arme der anderen Philosophie, des anderen Anbieters.
Deswegen macht es Sinn – ein bisschen wie bei frisch Verliebten –, ein bisschen zu warten. Die Kritik erst nach ein paar Monaten zu platzieren, ist oft viel wirkungsvoller. Wenn der andere vielleicht auch wieder einen realistischeren Blick auf seine Haltungen bekommen hat, auf das Angebot, das er da macht, und selber schon ein bisschen gemerkt hat, da ist auch nicht alles Gold, was glänzt, dann ist es sehr viel sinnvoller, ins Gespräch zu gehen.
Das bedeutet aber nicht, die erste Zeit einfach nichts zu tun. Da ist es vor allem sinnvoll, in Kontakt zu bleiben, dabei aber weniger die Konfrontation zu suchen. Man sollte eher ein bisschen versuchen zu verstehen: Was macht dieses Angebot für den gerade so attraktiv? Welche Bedürfnisse stecken vielleicht dahinter? Welche Wünsche, die er sich dadurch erfüllt? Oft ist dieser Weg sehr viel erfolgsversprechender, als in eine verurteilende Haltung reinzurutschen oder dem anderen das ausreden zu wollen.
Einen Sinn in der Krise finden
Dietrich: Seit zwei Jahren leben wir mit Corona. Hat sich in der Pandemie das Sinn-Suchen und das Sinn-Finden verändert oder ist das einfach eine Krise wie jede andere?
Pohl: Aus der Resilienzforschung weiß man, dass Menschen, die in einer Krise oder in schwierigen Umständen einen Sinn für sich entdecken können, diese Krise leichter handhaben und aushalten können. Nietzsche hat mal gesagt, wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie. Das erklärt noch mal ganz gut, warum Krisenzeiten Sinnangeboten einfach Vorschub leisten.
Wir haben das tatsächlich beobachten können: Zum Beispiel Coaching-Angebote haben in der Krisenzeit noch mal sehr viel Aufschwung erlebt, aber auch dieser Verschwörungsglaube oder verschiedene Gruppierungen, die für dieses gerade sehr komplexe Weltgeschehen einfache Erklärungen anbieten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.