Sarah Wiener: "Ernährung ist keine Privatsache"

Moderation: Christine Deggau |
Die prominente Köchin Sarah Wiener hat den Aktionsplan der Bundesregierung zum Kampf gegen Übergewicht als "illusorisch" kritisiert. Wichtiger sei es, vor allem bei Kindern zum Beispiel durch Kochkurse ein Bewusstsein für gesunde Ernährung zu schaffen. Eltern sollten konsequenter und cooler bleiben nach dem Motto: Es gibt das, was es gibt!
Christine Deggau: Die Zahl der Übergewichtigen in der Welt steigt, und nach einer Studie der International Association of the Study of Obesity sind die Deutschen führend – mit 75 Prozent aller Männer und 58,9 Prozent der Frauen. Dem widerspricht jetzt das Robert Koch-Institut und legt eigene Zahlen vor: Es seien nur 67 Prozent der Männer und 54 Prozent der Frauen. Egal wie, immer noch zu viele und Zeit zu handeln. Denn die Volkskrankheit Übergewicht kostet den Steuerzahler Milliarden. Aus diesem Grund will Verbraucherminister Seehofer heute einen nationalen Aktionsplan vorlegen, der die Deutschen auf Diät setzen soll – freiwillig. Über gesunde Ernährung und Sinn und Unsinn eines solchen Plans spreche ich jetzt mit Sarah Wiener, Starköchin und Restaurantbesitzerin. Hallo, Frau Wiener!

Sarah Wiener: Guten Tag, Frau Deggau!

Deggau: Frau Wiener, haben Sie jemals auf Ihre Linie achten müssen?

Wiener: Ich hätte vielleicht mal ein bisschen mehr auf meine Linie achten müssen, aber ich hab es eigentlich nie wirklich bewusst gemacht und ich habe auch noch nie eine Diät gemacht.

Deggau: Wunderbar. Ich auch nicht, glücklicherweise. Wahrscheinlich sind wir bevorzugt, denn es sind Zahlen, die erschrecken. Nehmen wir mal die des Robert Koch-Instituts: 67 Prozent der Männer und knapp 54 Prozent der Frauen sind übergewichtig. Was machen die denn in Ihren Augen falsch?

Wiener: Also Übergewicht kann ja sehr, sehr viele verschiedene Ursachen haben. Das kann man, glaube ich, nicht so in ein, zwei Sätzen sagen. Es ist sicher zum Teil genetisch bedingt, es sind zum Teil sicher die Lebensumstände. Ich glaube, dass ein großer Teil tatsächlich der Ernährungsindustrie in die Schuhe zu schieben ist. Aber es ist auch mangelnde Bewegung, es ist das soziale Umfeld, es ist sicher auch manches psychomäßig zu begründen, indem man den berühmten Frustfraß oder die Langeweile, das Angebot, die Aufklärung – ich glaube, das ist so ein Misch von vielen verschiedenen Dingen.

Deggau: Vor allen Dingen die Kinder sind ja auch leidtragend. Zwei Millionen sind übergewichtig, und viele von ihnen werden einfach vorm Fernseher abgesetzt und stopfen dann nebenbei Chips und Süßigkeiten in sich rein, das wissen wir. Es gibt jetzt Ernährungswissenschaftler, die fordern die Bestrafung von Eltern dicker Kinder. Was halten Sie denn davon?

Wiener: Na ja, schon allein das Wort Bestrafung klingt in meinen Ohren irgendwie nicht so wahnsinnig als richtigen Weg, denn diese Eltern machen das ja in der Regel nicht aus Bösartigkeit oder aus Sadismus, sondern weil sie es selber nicht anders gelernt haben, erfahren haben und aus einer Hilflosigkeit und aus einer Unaufgeklärtheit oder weil sie keine anderen Möglichkeiten wissen, die Kinder zu erziehen oder die eben zu ernähren. Viel sinnvoller wäre es zum Beispiel, da Eltern selber scheinbar nicht mehr kochen können und nichts mehr über Ernährung wissen, den Kindern das Kochen beizubringen und darüber den Respekt vor Lebensmitteln und vor ihrem Körper wieder zurückzugeben. Und wenn das Eltern nicht leisten können, dann wäre es vielleicht ein guter Ansatz zu überlegen, ob das nicht der Staat im Kindergarten und in der Schule leisten können kann und wird müssen.

Deggau: Also finden Sie diese Idee von Verbraucherminister Seehofer mit seinem nationalen Ernährungsplan sinnvoll? Ist Ernährung nicht eigentlich Privatsache?

Wiener: Nein, Ernährung ist keine Privatsache, denke ich für mich, denn es ist ja auch die Sache, was man überhaupt, was uns als Ernährung zur Verfügung steht und was anderen zur Ernährung zur Verfügung steht. Wenn man einfach nicht kochen kann oder nur Müll bekommt, dann kann das nicht eine Privatsache sein, denn wir sind schließlich alles das, was wir essen, und es geht nicht nur, meiner Meinung nach, auf den Körper, sondern auch auf die Psyche. Und da kriegt ein ganzes Volk ein Problem. Also das kann keine Privatsache sein. Aber von irgendeiner Initiative, wo man Millionen reinpumpt und dann irgendwelche Kinder auffordert, kommt doch dahin und lauft ’ne Runde, ist natürlich auch Schwachsinn, weil wir wissen, dass genau die Kinder, die es brauchen, ganz sicher nicht von ihren Eltern da hingefahren werden und Glück strahlend lächeln mit der Omi an der Hand die Runden dreht. Also das ist illusorisch und ein bisschen von der Realität entfernt.

Deggau: Was hätten Sie denn Herrn Seehofer geraten, wenn er Sie konsultiert hätte?

Wiener: Ich hätte ihm geraten, dass es strengere Verbraucherschutzgesetze geben muss, dass es zum Beispiel eine klare Deklarationspflicht auf den Etiketten der Lebensmittel geben muss, wo ganz klar ohne Ausnahme deklariert werden sollte, was da alles drinnen ist und eine Information dazu, damit jeder weiß, dass er sich freiwillig gut und gerne mit wie viel Dingen vergiftet oder zunimmt. Und ich hätte ihm geraten, dass er etwas mehr tut in Form von Kinderkochkursen, Geschmackschulen, Ernteeinsätze für Kinder, zum Beispiel auch Frühstücksgruppen, wo Kinder lernen, sich selber Frühstück zu machen, wenn sie zu Hause nicht mehr gefüttert werden, und solche Aktionen, die wirklich gleich Lust mit Verantwortung und Befriedigung am Essen und an der Seele dienen.

Deggau: Machen wir es mal konkret, stellen wir uns vor, Sie wären heute Mittag Gast bei einer typisch deutschen Familie, sitzen am Tisch: Was würden Sie ihnen empfehlen? Machen Sie mal so eine Art persönlichen Ernährungsplan.

Wiener: Ich empfehle zum einen tatsächlich, so früh wie es geht, Kinder mit kochen zu lassen. Kinder, die selber mit kochen und selber Gemüse schnippeln, essen das viel eher, als wenn Sie ihnen etwas fertig Gekauftes oder fertig Gekochtes vor die Nase stellen. Da kommt viel eher ein "Mag ich nicht, schmeckt nicht". Zum anderen würde ich empfehlen, keine Chips zu kaufen, keine Süßigkeiten in dem Maße, dass das immer überall verfügbar ist, keine zuckerhaltigen Limonaden. Das gibt’s einfach nicht. Entweder ich mache mir selber eine Zitronenlimonade oder es gibt Wasser und Kräutertee. Was es nicht gibt, das kann man auch nicht essen. Zum anderen würde ich sagen, ich würde mir fürs Naschen, was weiß ich, getrocknetes Obst, Apfelringe, das beste Gemüse, auch exotisches Obst, das auch dann mal was Besonderes und Teures ist. Und dann würde ich sagen, die Regel ist einfach: Du isst so viel, wie du willst, und das Essen soll abwechslungsreich sein.

Deggau: Aber was machen Sie denn mit Kindern, die sagen, ich möchte jetzt Schokolade, ich möchte Gummibärchen?

Wiener: Ja, das gibt’s nicht, das Leben ist kein Wunschkonzert, mein Lieber. Und wenn die sagen, dann esse ich gar nichts, dann sage ich, na dann hunger halt. Wir sind sowieso schon so dick, also so schnell verhungert kein Kind heute. Es ist ein Irrtum, dass man sagt, ja, der isst leider nur 35 Liter Cola und Hamburger, weil sonst isst er ja gar nichts, dann würde ich sagen, na dann isst er halt gar nichts. Mal sehen, wie lange. Man muss da viel, glaube ich, konsequenter und cooler bleiben und darf irgendwie nicht jeder Erpressung und jedem Machtspiel der Kinder nachgeben. Es gibt das, was es gibt, und aus. Und wenn er das nicht isst, dann isst er halt nichts.

Deggau: Heute läuft der neue Film von Doris Dörrie an, "How to cook your life", in dem sie den berühmten Szenekoch Ed Brown begleitet. Was er in dieser Dokumentation vorlebt, ist, wenn du Kartoffeln schälst, schäl Kartoffeln, wenn du Reis kochst, koch Reis. Eine bewusste Handhabung von Lebensmitteln also als erster Schritt zu bewusster Ernährung.

Wiener: Auf jeden Fall. Also im Kloster ist es immer so, dass der Koch der zweitwichtigste Mensch nach dem Abt war, und das hatte seinen Grund. Wenn du etwas machst, dann mach es bewusst, und wenn es Kartoffelschälen ist, dann ist es eben das, und wenn es Kehren ist, dann ist es was anderes, und wenn es Essen ist, dann isst du bewusst das Essen. Und das sättigt auf jeden Fall um vieles, vieles mehr, als nebenbei irgendwas reinzustopfen.

Deggau: Dünnsein ist ja auch nicht nur gesünder, es ist auch schöner. Ich habe irgendwann mal gelesen, dass Claudia Schiffer erzählt hat, dass sie nach 18 oder nach 20 Uhr gar nichts mehr zu sich nimmt. Ist das ein Tipp?

Wiener: Ich halte eigentlich nichts von solchen rigiden Maßnahmen. Wenn das für Frau Schiffer in Ordnung ist und sie mag das, dann soll sie das so halten. Andere haben einen anderen Lebensrhythmus. Man muss einfach auf seinen Körper hören und selber hören, wann man Hunger hat und wann man wirklich was braucht und ob es einem schmeckt. Oft isst man ja, stopft man ja geradezu Sachen in sich hinein, die eigentlich grauselig sind. Man weiß es, man ärgert sich danach, aber man isst automatisch weiter. Und wenn wir das schon abstellen würden, kann man auch ruhig bewusst mal um 24 Uhr was essen, wenn das nicht zu einer Manie und zu einer Fresssucht ausartet.

Deggau: Die Südeuropäer sind da ja auch ganz anders als wir, die essen spät, die Spanier essen manchmal sogar erst gegen zehn Uhr abends. Sie sind letztes Jahr für Arte durch Frankreich gereist und haben da vor laufender Kamera Bekanntschaft mit der französischen Küche gemacht. Anders als die Deutschen haben ja die Italiener, aber vor allem auch die Franzosen, trotz ihrer gehaltvollen Küche überhaupt keine Probleme so wie wir mit dem Übergewicht. Woran liegt das denn, was machen die anders?

Wiener: Ja, das stimmt zum einen nicht, also auch da gibt es dicke Menschen, und es werden wahrscheinlich viel mehr werden. Und das liegt in erster Linie, glaube ich, wirklich an der Änderung unserer Ernährungsgewohnheiten und am Kochen. Je mehr wir Fertigprodukte in uns hineinschaufeln, desto fetter werden die Leute. Ich glaube, dass das wirklich eine Verbindung zwischen diesen beiden Sachen gibt. In Frankreich und in Italien wird eben noch viel mehr selber gekocht, da ist kein Glutamat drin und Geschmacksverstärker, die uns noch dazu animieren und betrügen, dass wir mehr essen sollen. Das sind keine Geschmacksexplosionen, die unser Hirn lahmlegen und uns dazu auffordern. Da gibt es keine designten Lebensmittel, die den Speichelfluss anregen, damit wir nicht aufhören können zu essen. Da gibt es keine leeren Kalorien und keine Zuckeraustauschstoffe, die uns signalisieren im Hirn, Energie, Energie, und dann kommt nichts. Das hat sicher auch damit etwas zu tun. Kulturen, die selber viel kochen, sind auch in der Regel gesünder und in der Regel dünner. So einfach ist das.

Deggau: In Deutschland gibt es jetzt aber trotz allem ein riesiges Interesse für die Kochshows im Fernsehen. Sie wissen das auch, Sie kochen bei Kerner. Das heißt, es wird gekocht, es wird auch geguckt als Quotengarant, die Leute, Millionen gucken da zu, und es ist immer gesunde Ernährung, die auch propagiert wird. Andererseits werden die Deutschen aber immer dicker. Widerspricht sich das nicht?

Wiener: Allein von einer Fernsehkoch-Sendung zuschauen, lernt man noch nicht kochen und kocht man auch noch nicht selber. Ich glaube, dass es tatsächlich eine Schere ist. Eine Elite, die immer mehr auf ihren Körper achtet und sehr gut kocht und bewusst einkauft und auch Qualität haben möchte, und eine breitere Masse, die unterhalten werden möchte, die sich vielleicht ab und zu eine Anregung holt oder vielleicht mal am Feiertag dieses Alte-Kochkunst-und-Kultur auspackt und dann versucht, selber ein Menü zu machen. Aber das reicht halt eigentlich nicht, wenn man nur zu Weihnachten kocht. Außerdem ist das so stressig, weil dann geht es eh meistens schief. Also ich würde mir wünschen, dass die Leute einfach wieder öfters kochen und auch ruhig einfache Sachen. Weil das, was ich in den Kochshows selber manchmal sehe, das braucht ja dann, seien wir mal ehrlich, fünf, sechs Stunden, und die habe ich auch nicht jeden Tag.

Deggau: Frau Wiener, was gibt es denn heute bei Ihnen zu essen?

Wiener: Das weiß ich noch nicht, ich denke mal Spargel, weil das die Saison ist und wahrscheinlich einen ganzen Watschen, einfach einen Topf mal so Quark mit frischen Erdbeeren und ein paar frühe Kartoffeln oder so was. Ich esse ja wenig Fleisch, und ich versuche halt auch, in diesen Zeiten dann saisonal mich zu ernähren und regional, und ich denke, das wird ein köstliches Mahl sein, ich liebe Spargel.

Deggau: Wie man sich gesund ernähren kann, darüber sprach ich mit der Spitzenköchin Sarah Wiener. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Wiener: Bitte gerne.