Sartre als Vorbild
Der Philosoph Jean-Paul Sartre war eine der prägenden Figuren des 20. Jahrhunderts. Am 21. Juni wäre er 100 Jahre alt geworden. Sartre habe als Vorbild gewirkt und beeindruckt, erklärte Vincent von Wroblewski, Präsident der Sartre-Gesellschaft in Deutschland.
Frank Meyer: Ohne Zweifel war Sartre eine der ganz prägenden Figuren des 20. Jahrhunderts, heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Und bei uns ist jetzt Vincent von Wroblewski, der Präsident der Sartre-Gesellschaft in Deutschland. Wie haben Sie Sartre für sich entdeckt, wie fing das an bei Ihnen?
Vincent von Wroblewski: Mit der Erzählung "Die Kindheit eines Chefs", weil ich von einem Freund, dessen Mutter die Leihbibliothek gegenüber leitete, hörte, das sei ein pornographisches Buch, was zurückgezogen worden war. Und das hat meine Neugierde eines 15-Jährigen natürlich heftig erregt. Ich habe es dann gelesen, die Pornographie war dann nicht das Wichtige nachher, aber es blieb ein Text, der für mich nach wie vor zu den wichtigen von Sartre gehört.
Meyer: Was hat Ihnen dieser Text eröffnet?
Von Wroblewski: Er hat mir gezeigt, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist, und zwar kann er das in einer entfremdeten unaufrichtigen Weise werden wie das bei dem Helden dieser Erzählung ist, Lucien Fleurier, der sich dann für den Antisemitismus entscheidet, weil das für ihn die Flucht vor der Freiheit ist, die Freiheit, die ja etwas nicht Leichtes ist. Das ist mit Verantwortung verbunden, man muss sich immer wieder entscheiden. Wenn man Sartres Philosophie und Denken ernst nimmt, und viele Menschen scheuen davor zurück und wählen Haltungen der Flucht. Und der Antisemitismus ist eine dieser Möglichkeiten, um wie Sartre dann später in den Überlegungen zur Judenfrage schreibt, "zu sein wie ein Felsblock, wie ein stürzender Bach, wie alles, nur nicht wie ein Mensch, der seine Freiheit lebt".
Meyer: Sie haben schon den Begriff der Freiheit angesprochen, Sartre gilt ja als der Philosoph der Freiheit im 20. Jahrhundert. Was meint Sartre genau, wenn er Freiheit sagt?
Von Wroblewski: Es gibt Sätze, die sehr eingängig sind und natürlich auch dazu verführen, das vielleicht zu verflachen. Ein Satz wie "wir sind zur Freiheit verurteilt". Für Sartre ist die Freiheit das, was uns von allen anderen Seinsformen unterscheidet, sei es ein Kohlkopf oder ein Fels oder der Sturzbach, den ich eben erwähnte. Wir sind durch unsere Konstitution, durch die Weise, in der wir leben mit Bewusstsein und entwerfende, sind wir frei, und wir können gar nicht nicht frei sein, selbst wenn wir dem ausweichen sollen, ist das auch noch eine Entscheidung, die wir treffen. Wir sind zwar immer in Situationen, die uns in aller möglichen Art begrenzen und beschränken, aber es bleibt immer ein Spielraum, in dem wir diese Situation auf uns zu nehmen haben und zu entscheiden, wie wir sie überschreiten oder verfestigen oder wie gesagt, wie wir vor ihr fliehen.
Meyer: Diese starke Betonung der Freiheit, war das auch der Grund dafür, dass Sartre so ein Modephilosoph geworden ist in den 50ern? Damals war ja sein Denken wirklich eine Lebensform für ganz viele in Westeuropa. Was waren die Gründe dafür?
Von Wroblewski: Ohne Zweifel spielte das eine große Rolle, denn wir müssen uns den Hintergrund der ersten Nachkriegsjahre vorstellen und speziell in Frankreich: Eine Gesellschaft, die aus der Zeit der deutschen Besatzung hervorging mit allen möglichen Zwängen, Restriktionen, Bevormundungen und jetzt diese emphatische Betonung der Freiheit des Individuums - das war etwas, was für das Lebensgefühl damals entscheidend war und was weite Horizonte eröffnete. Sartre vermittelte auch einen Blick weit über Frankreich und Europa hinaus, er war einer derjenigen, die zum Beispiel den Jazz aus Amerika, die Erzählungen und vieles mitförderte und das alles zusammen prägte das Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration, die nicht in Zwänge eingeengt sein wollte.
Meyer: Was von heute aus ganz schwer zu verstehen ist: Dass dieser Philosoph, der für die Freiheit stand, für diesen Aufbruch, dass er sich Anfang der 50er Jahre ganz klar an die Seite des Kommunismus und der Sowjetunion stellt und zum Beispiel nach einer Reise 1954 in die Sowjetunion sagt: Wenn jemand mir noch einmal zu sagen versucht, dass in der Sowjetunion die Religion verfolgt oder verboten wird, dann schlage ich ihm die Fresse ein. Fundamentale Fehleinschätzung ja tatsächlich von heute aus gesehen. Wie erklären Sie sich die?
Von Wroblewski: Auch aus der damaligen Zeit, auch viele damals wussten es besser. Es gibt viele Gründe, warum Sartre zwischen 1952 und 56 (im wesentlichen ist das auf diese Jahre beschränkt) meinte, in besonderer Weise ein Weggefährte der Kommunisten sein zu sollen in einer Situation des Kalten Krieges und der stets latenten Gefahr eines Weltkrieges und zwar auch eines atomaren Krieges. Sartre hatte betont, dass die Menschheit in einer völlig neuen Situation ihrer Geschichte ist: Sie ist zum ersten Mal in der Lage, ihre eigene Existenz auszulöschen durch die Atombombe und das war etwas, was Sartre um jeden Preis vermeiden wollte, und dabei ging er manchmal über den zu akzeptierenden Preis hinaus, auch unter Umständen, die er dann nicht ganz überblickte. Er kam 1954 nach dieser Reise (es war seine erste in die Sowjetunion) recht krank zurück nach vielen Gelagen und viel Wodka und hat dies in einem Interview erklärt, was er nicht noch mal geprüft hatte. Es gibt also mildernde Umstände, aber es bleibt natürlich die Tatsache, dass diese Äußerung auch im Widerspruch zu seinem Verständnis von Moral und Aufrichtigkeit steht.
Meyer: Sartre hat nicht nur eine Ausstrahlung als Denker, Autor und politische Figur, sondern auch als Mensch und zum Beispiel in seiner ungewöhnlichen Verbindung zu Simone de Beauvoir. Wie wichtig war denn seine Persönlichkeit für diesen ganzen Sartre-Kult um ihn herum?
Von Wroblewski: Es war wichtig, dass Sartre nicht nur theoretisch eine Philosophie der Freiheit dargelegt hatte, sondern diese Philosophie, die auch eine der Straße und auf der Straße sein wollte, lebte, dass er also seine These, dass der Mensch seine Beziehungen neu zu erfinden habe, die Moral zu erfinden habe, versuchte zu leben, indem er mit Simone de Beauvoir zunächst auf der Grundlage eines zweijährig zu verlängernden Vertrages lebte, und dass er die Beziehung zu Freunden neu definierte und so etwas entstand wie die Sartresche Familie, so nannte sie sich, das heißt Beziehungen zu jüngeren Frauen, von denen er einen Teil mehr als Töchter sah und behandelte, es gab auch Söhne, die er gewissermaßen adoptierte, die er förderte, für die er das Studium bezahlte. Es war ein Geflecht von zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich ihre eigenen Grundlagen schufen, und das hat auch, denke ich, als Vorbild gewirkt und beeindruckt.
Meyer: Die französische Sartrebiographin Annie Cohen-Solal hat vor kurzem gesagt, Sartre werde überall in der Welt geschätzt, nur in Frankreich sei er mit einem Bann gelegt als irreführendes Vorbild, als überholter Denker. Sehen Sie das auch so, tun sich die Franzosen heute schwer mit Sartre?
Von Wroblewski: Ich denke, sie übertreibt ein wenig, aber es fällt schon ein Unterschied auf zwischen - und da meint sie vor allem natürlich die Medien und vielleicht auch die geistigen Eliten - zwischen jenen, die in Frankreich eher negative Urteile über Sartre fällen, die im Widerspruch stehen zu dem sehr regen Interesse, das weltweit zu sehen ist, nicht nur in Lateinamerika, in Afrika, aber auch zum Beispiel in Japan ist Sartre ein hochgeschätzter und immer wieder gelesener Mann, und es bleibt nach wie vor zum Beispiel die Tatsache bestehen, dass Sartre der französische Autor des 20. Jahrhunderts ist, über den die meisten Dissertationen weltweit geschrieben werden. Also mit dem mangelnden Interesse oder dem absoluten Kontrast ist das so eine Sache, aber mit der Tendenz hat sie sicher Recht. Im eigenen Lande gilt auch hier wieder mal der Prophet weniger als woanders.
Meyer: Wer liest bei uns in Deutschland Sartre außer den Philosophen?
Von Wroblewski: Es gibt im Lande Universitäten, in denen Seminare und Vorlesungen stattfinden, sicher weniger als dieser Autor es verdienen würde, es gibt auch immer wieder neue Generationen, die sein Werk entdecken, die fasziniert sind von bestimmten Texten, die eine Aktualität bewahren. Andere mögen eher datiert scheinen, aber es lohnt sich, Sartre zu entdecken. Und wer damit etwas ernster angefangen hat, wird oft in diesen Sog hineingezogen und bleibt dann mit ihm lange verbunden, was natürliche kritische Distanzen und Einschränkungen nicht ausschließt.
Meyer: Wer ganz unverdorben einen Zugang zu Sartre sucht heute, welches seiner vielen Werke würden sie dem dann empfehlen?
Von Wroblewski: Wenn er sich besonders für Literatur interessiert, würde ich ihm zum Beispiel die fünf Erzählungen empfehlen, die in dem Band "Die Wand" erschienen sind, die von mir erwähnte "Kindheit eines Chefs" gehört zu diesen fünf, auch der "Ekel", der allerdings anspruchsvoller und vielleicht schwieriger im Zugang ist, ist ein nach wie vor großer literarischer Text des 20. Jahrhunderts; wer mehr für die Philosophie einen Zugang sucht, kann "der Existenzialismus ist ein Humanismus", ein Vortrag von 1945, lesen, den Sartre zwar, weil er etwas vereinfachte, dann später etwas zurückgenommen hat, er kann eine frühere Schrift, die sehr schön ist lesen, die deutsch heißt "eine fundamentale Idee Husserls, die Intentionalität", das klingt zwar etwas schwieriger, aber das ist ein faszinierender Text, wenn man sich ein wenig auf ihn einlässt.
Interner Verweis:
Ein prägender Denker des 20. Jahrhunderts -
Zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre
Vincent von Wroblewski: Mit der Erzählung "Die Kindheit eines Chefs", weil ich von einem Freund, dessen Mutter die Leihbibliothek gegenüber leitete, hörte, das sei ein pornographisches Buch, was zurückgezogen worden war. Und das hat meine Neugierde eines 15-Jährigen natürlich heftig erregt. Ich habe es dann gelesen, die Pornographie war dann nicht das Wichtige nachher, aber es blieb ein Text, der für mich nach wie vor zu den wichtigen von Sartre gehört.
Meyer: Was hat Ihnen dieser Text eröffnet?
Von Wroblewski: Er hat mir gezeigt, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist, und zwar kann er das in einer entfremdeten unaufrichtigen Weise werden wie das bei dem Helden dieser Erzählung ist, Lucien Fleurier, der sich dann für den Antisemitismus entscheidet, weil das für ihn die Flucht vor der Freiheit ist, die Freiheit, die ja etwas nicht Leichtes ist. Das ist mit Verantwortung verbunden, man muss sich immer wieder entscheiden. Wenn man Sartres Philosophie und Denken ernst nimmt, und viele Menschen scheuen davor zurück und wählen Haltungen der Flucht. Und der Antisemitismus ist eine dieser Möglichkeiten, um wie Sartre dann später in den Überlegungen zur Judenfrage schreibt, "zu sein wie ein Felsblock, wie ein stürzender Bach, wie alles, nur nicht wie ein Mensch, der seine Freiheit lebt".
Meyer: Sie haben schon den Begriff der Freiheit angesprochen, Sartre gilt ja als der Philosoph der Freiheit im 20. Jahrhundert. Was meint Sartre genau, wenn er Freiheit sagt?
Von Wroblewski: Es gibt Sätze, die sehr eingängig sind und natürlich auch dazu verführen, das vielleicht zu verflachen. Ein Satz wie "wir sind zur Freiheit verurteilt". Für Sartre ist die Freiheit das, was uns von allen anderen Seinsformen unterscheidet, sei es ein Kohlkopf oder ein Fels oder der Sturzbach, den ich eben erwähnte. Wir sind durch unsere Konstitution, durch die Weise, in der wir leben mit Bewusstsein und entwerfende, sind wir frei, und wir können gar nicht nicht frei sein, selbst wenn wir dem ausweichen sollen, ist das auch noch eine Entscheidung, die wir treffen. Wir sind zwar immer in Situationen, die uns in aller möglichen Art begrenzen und beschränken, aber es bleibt immer ein Spielraum, in dem wir diese Situation auf uns zu nehmen haben und zu entscheiden, wie wir sie überschreiten oder verfestigen oder wie gesagt, wie wir vor ihr fliehen.
Meyer: Diese starke Betonung der Freiheit, war das auch der Grund dafür, dass Sartre so ein Modephilosoph geworden ist in den 50ern? Damals war ja sein Denken wirklich eine Lebensform für ganz viele in Westeuropa. Was waren die Gründe dafür?
Von Wroblewski: Ohne Zweifel spielte das eine große Rolle, denn wir müssen uns den Hintergrund der ersten Nachkriegsjahre vorstellen und speziell in Frankreich: Eine Gesellschaft, die aus der Zeit der deutschen Besatzung hervorging mit allen möglichen Zwängen, Restriktionen, Bevormundungen und jetzt diese emphatische Betonung der Freiheit des Individuums - das war etwas, was für das Lebensgefühl damals entscheidend war und was weite Horizonte eröffnete. Sartre vermittelte auch einen Blick weit über Frankreich und Europa hinaus, er war einer derjenigen, die zum Beispiel den Jazz aus Amerika, die Erzählungen und vieles mitförderte und das alles zusammen prägte das Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration, die nicht in Zwänge eingeengt sein wollte.
Meyer: Was von heute aus ganz schwer zu verstehen ist: Dass dieser Philosoph, der für die Freiheit stand, für diesen Aufbruch, dass er sich Anfang der 50er Jahre ganz klar an die Seite des Kommunismus und der Sowjetunion stellt und zum Beispiel nach einer Reise 1954 in die Sowjetunion sagt: Wenn jemand mir noch einmal zu sagen versucht, dass in der Sowjetunion die Religion verfolgt oder verboten wird, dann schlage ich ihm die Fresse ein. Fundamentale Fehleinschätzung ja tatsächlich von heute aus gesehen. Wie erklären Sie sich die?
Von Wroblewski: Auch aus der damaligen Zeit, auch viele damals wussten es besser. Es gibt viele Gründe, warum Sartre zwischen 1952 und 56 (im wesentlichen ist das auf diese Jahre beschränkt) meinte, in besonderer Weise ein Weggefährte der Kommunisten sein zu sollen in einer Situation des Kalten Krieges und der stets latenten Gefahr eines Weltkrieges und zwar auch eines atomaren Krieges. Sartre hatte betont, dass die Menschheit in einer völlig neuen Situation ihrer Geschichte ist: Sie ist zum ersten Mal in der Lage, ihre eigene Existenz auszulöschen durch die Atombombe und das war etwas, was Sartre um jeden Preis vermeiden wollte, und dabei ging er manchmal über den zu akzeptierenden Preis hinaus, auch unter Umständen, die er dann nicht ganz überblickte. Er kam 1954 nach dieser Reise (es war seine erste in die Sowjetunion) recht krank zurück nach vielen Gelagen und viel Wodka und hat dies in einem Interview erklärt, was er nicht noch mal geprüft hatte. Es gibt also mildernde Umstände, aber es bleibt natürlich die Tatsache, dass diese Äußerung auch im Widerspruch zu seinem Verständnis von Moral und Aufrichtigkeit steht.
Meyer: Sartre hat nicht nur eine Ausstrahlung als Denker, Autor und politische Figur, sondern auch als Mensch und zum Beispiel in seiner ungewöhnlichen Verbindung zu Simone de Beauvoir. Wie wichtig war denn seine Persönlichkeit für diesen ganzen Sartre-Kult um ihn herum?
Von Wroblewski: Es war wichtig, dass Sartre nicht nur theoretisch eine Philosophie der Freiheit dargelegt hatte, sondern diese Philosophie, die auch eine der Straße und auf der Straße sein wollte, lebte, dass er also seine These, dass der Mensch seine Beziehungen neu zu erfinden habe, die Moral zu erfinden habe, versuchte zu leben, indem er mit Simone de Beauvoir zunächst auf der Grundlage eines zweijährig zu verlängernden Vertrages lebte, und dass er die Beziehung zu Freunden neu definierte und so etwas entstand wie die Sartresche Familie, so nannte sie sich, das heißt Beziehungen zu jüngeren Frauen, von denen er einen Teil mehr als Töchter sah und behandelte, es gab auch Söhne, die er gewissermaßen adoptierte, die er förderte, für die er das Studium bezahlte. Es war ein Geflecht von zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich ihre eigenen Grundlagen schufen, und das hat auch, denke ich, als Vorbild gewirkt und beeindruckt.
Meyer: Die französische Sartrebiographin Annie Cohen-Solal hat vor kurzem gesagt, Sartre werde überall in der Welt geschätzt, nur in Frankreich sei er mit einem Bann gelegt als irreführendes Vorbild, als überholter Denker. Sehen Sie das auch so, tun sich die Franzosen heute schwer mit Sartre?
Von Wroblewski: Ich denke, sie übertreibt ein wenig, aber es fällt schon ein Unterschied auf zwischen - und da meint sie vor allem natürlich die Medien und vielleicht auch die geistigen Eliten - zwischen jenen, die in Frankreich eher negative Urteile über Sartre fällen, die im Widerspruch stehen zu dem sehr regen Interesse, das weltweit zu sehen ist, nicht nur in Lateinamerika, in Afrika, aber auch zum Beispiel in Japan ist Sartre ein hochgeschätzter und immer wieder gelesener Mann, und es bleibt nach wie vor zum Beispiel die Tatsache bestehen, dass Sartre der französische Autor des 20. Jahrhunderts ist, über den die meisten Dissertationen weltweit geschrieben werden. Also mit dem mangelnden Interesse oder dem absoluten Kontrast ist das so eine Sache, aber mit der Tendenz hat sie sicher Recht. Im eigenen Lande gilt auch hier wieder mal der Prophet weniger als woanders.
Meyer: Wer liest bei uns in Deutschland Sartre außer den Philosophen?
Von Wroblewski: Es gibt im Lande Universitäten, in denen Seminare und Vorlesungen stattfinden, sicher weniger als dieser Autor es verdienen würde, es gibt auch immer wieder neue Generationen, die sein Werk entdecken, die fasziniert sind von bestimmten Texten, die eine Aktualität bewahren. Andere mögen eher datiert scheinen, aber es lohnt sich, Sartre zu entdecken. Und wer damit etwas ernster angefangen hat, wird oft in diesen Sog hineingezogen und bleibt dann mit ihm lange verbunden, was natürliche kritische Distanzen und Einschränkungen nicht ausschließt.
Meyer: Wer ganz unverdorben einen Zugang zu Sartre sucht heute, welches seiner vielen Werke würden sie dem dann empfehlen?
Von Wroblewski: Wenn er sich besonders für Literatur interessiert, würde ich ihm zum Beispiel die fünf Erzählungen empfehlen, die in dem Band "Die Wand" erschienen sind, die von mir erwähnte "Kindheit eines Chefs" gehört zu diesen fünf, auch der "Ekel", der allerdings anspruchsvoller und vielleicht schwieriger im Zugang ist, ist ein nach wie vor großer literarischer Text des 20. Jahrhunderts; wer mehr für die Philosophie einen Zugang sucht, kann "der Existenzialismus ist ein Humanismus", ein Vortrag von 1945, lesen, den Sartre zwar, weil er etwas vereinfachte, dann später etwas zurückgenommen hat, er kann eine frühere Schrift, die sehr schön ist lesen, die deutsch heißt "eine fundamentale Idee Husserls, die Intentionalität", das klingt zwar etwas schwieriger, aber das ist ein faszinierender Text, wenn man sich ein wenig auf ihn einlässt.
Interner Verweis:
Ein prägender Denker des 20. Jahrhunderts -
Zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre