Raabe-Literaturpreis für Stanišić

Ein leidenschaftlicher und virtuoser Erzähler

Saša Stanišić bei einer Lesung in Heidelberg
Saša Stanišić erzählt von migrantischen Schicksalen, verstörten Familienvätern und Witwen, die sich ihr Leben neu erfinden müssen. © imago images / Daniel Kubirski
Von Wiebke Porombka |
Saša Stanišić hat für seinen aktuellen Roman den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2024 erhalten. Seine Gabe besteht darin, gesellschaftspolitisch Relevantes und Privates auf gleiche Weise ernst zu nehmen und mit einem sehr eigenen Humor zu erzählen.
Saša Stanišićs Buch „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ (Luchterhand Literaturverlag, 2024) ist ein Buch, das man als Erzählband und gleichzeitig als Roman lesen kann. Es versammelt und verdichtet die Themen, die das Werk Saša Stanišićs seit seinem Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ausmachen: Fragen nach Herkunft und Identität, Migration und Diskriminierung.
In seiner Dankesrede zur Verleihung des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises, den der Deutschlandfunk und die Stadt Braunschweig vergeben, sagte Saša Stanišić am 3. November 2024:

Wie schön das doch ist und wie wichtig: Uneindeutigkeit! Wie gut das doch ist, dass wir Uneindeutigkeit zulassen, dass wir uns aussetzen. Das ist das Wort - sich aussetzen. Andere Perspektiven und Biografien oder auch Themen mitdenken in diesen unseren Zeiten des Besserwissens und der Konzentration immer auf das Eigene meist gegen das Andere. Das eigene Wohl auch, den eigenen Körper, die Spuren, die man in den sozialen Medien hinterlässt, die eigenen Ressentiments, die auch dort am tiefsten wurzeln, wo man nur auf sich selbst und seinesgleichen trifft.

Saša Stanišić

Das Buch "Möchte die Witwe angesprochen werden..." fügt sich in das Werk aber auch in den Tonlagen, die dieser ebenso leidenschaftliche wie virtuose Erzähler beherrscht, in der Mischung aus Reflektion und Witz, aus Lakonie und Menschenfreundlichkeit.

Saša Stanišić erzählt von Lebensumbrüchen

Stanišić erzählt von Brüchen im Leben von jungen und alten Menschen, von migrantischen Schicksalen, verstörten Familienvätern oder Witwen, die sich ihr Leben neu erfinden müssen. Seine Geschichten konfrontieren diese Figuren mit Träumen und Möglichkeiten – und sehr oft zugleich auch mit dem, was ihnen für immer vorenthalten bleiben wird.
Die große Gabe des 46-Jährigen besteht darin, dass er das Existentielle und das vermeintlich Nebensächliche, das gesellschaftspolitisch Relevante und das Private auf gleiche Weise ernst nehmen und mit einem sehr eigenen Humor erzählen kann: der saturierte Hamburger Familienvater, der daran verzweifelt, gegen seinen kleinen Sohn nicht im Memory gewinnen zu können, wird nicht ausgespielt gegen die Nöte von Jugendlichen aus prekären Lebensverhältnissen, die in tristen Hochhaussiedlungen aufwachsen und aufgrund ihrer migrantischen Familiengeschichten alltäglichen Schikanen und Marginalisierungserfahrungen ausgesetzt sind.
Präzision im beobachteten Detail und Präzision in der sprachlichen Umsetzung je nach den Milieus, die er ausleuchtet, verschmilzt Saša Stanišić in diesem Buch zudem mit einer intensiven Auseinandersetzung mit älteren und neueren literarischen Referenzen.

Verschmilzt Gegenwart mit literarischen Sphären

Darin ruft er wach, wie sehr ihn selbst die Literatur in die deutsche Sprache hineingesogen hat, nachdem er als junger Jugendlicher mit seiner Familie vor dem Krieg in Bosnien nach Heidelberg geflohen ist. Er verschmilzt aber auch Sphären, die nicht selbstverständlich zusammengehören, wenn er die Geschichte einer türkischen Reinigungskraft mit einer Novelle von Artur Schnitzler verschneidet oder sein eigenes fiktives Alter Ego mit Texten von Heinrich Heine ins Gespräch bringt. Das ist immer überraschend, manchmal auch geradezu postmodern gebrochen.
 „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ birgt auf diese Weise nichts weniger als die frühromantische Utopie: Das Dasein lässt sich durch Literatur in etwas anderes, Besseres verwandeln. „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder“, so hat es der frühromantische Dichter Friedrich von Hardenberg, besser bekannt als Novalis, einst formuliert.
Das Werk Saša Stanišićs, das im Jahr 2024 mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wird, ist der berückende Beweis dafür, dass dieses Credo noch immer den Glutkern von Poesie ausmachen kann.

Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis ist vom Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig gestiftet und mit 30.000 Euro dotiert. Er zählt zu den bedeutendsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum und wird seit dem Jahr 2000 vergeben. Zu den bisherigen Preisträgern gehören zum Beispiel Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht und Judith Hermann. Dr. Wiebke Porombka (Deutschlandfunk) ist Teil der Jury.

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