Sascha Lobo: Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019
352 Seiten, 22 Euro
"Die jungen Menschen sind uns weit voraus"
08:00 Minuten
In seinem neuen Buch "Realitätsschock" schlägt Sascha Lobo vor, "zehn Lehren aus der Gegenwart" zu ziehen und stellt eine "Überdosis" Komplexität fest. Prädestiniert für die Lösung von großen politischen Problemen seien vor allem die jungen Leute.
Ute Welty: Immer weniger Gewissheiten, immer mehr Unsicherheiten. Die Welt, in der wir leben, scheint ständig komplexer und komplizierter zu werden. Blogger und Buchautor Sascha Lobo zieht zehn Lehren aus dieser Gegenwart. Er hat diese zehn Lehren in seinem neuen Buch zusammengefasst, das heute erscheint – "Realitätsschock" heißt es.
Sie behaupten, wer Ihr Buch liest, der ist besser gewappnet für kommende Brüche und Veränderungen, und zwar in Politik und Alltag. Geht es auch eine Nummer kleiner?
Lobo: Ich befürchte, dass ich zwar an dem Anspruch scheitern könnte, das müssen natürlich die Leserinnen und Leser entscheiden, dass es aber im Moment nicht die Zeit ist, um hier kleiner zu denken. Eher im Gegenteil: Mein Eindruck ist, dass wir sehr dringend diesen Realitätsschock oder die Realitätsschocks beachten müssen. Wir haben viel zu lange – ob das im Bereich Klima ist, im Bereich Migration, der Rechtsruck, auch Integration – uns ausgeruht auf einer Art von Wunschvorstellung.
Die Globalisierung beschleunigt Probleme
Welty: Was macht Sie da so sicher?
Lobo: Ich habe angefangen, einem Gefühl hinterherzurecherchieren, das ich vor einigen Jahren hatte. Ich glaube, ich bin überhaupt nicht allein mit diesem Gefühl, nämlich das Gefühl, die Welt wäre irgendwie verrückt geworden oder irgendwie aus den Fugen geraten sein.
Das ist natürlich kein ganz neues Gefühl, das ist schon Tausende Jahre alt, aber wir haben inzwischen eine neue Situation, nämlich durch Digitalisierung und Globalisierung. Die haben so viele Probleme beschleunigt, größer gemacht und bestimmte Zusammenhänge erst erkennen lassen, dass ich glaube, wir müssen uns jetzt sehr dringend anschauen, wie sind denn die Zusammenhänge tatsächlich.
Welty: Sie fordern dazu auf, die Schockstarre zu überwinden. Kann es sein, dass das leichter gesagt als getan ist?
Lobo: Ja, das ist leider so. Es ist auch nicht so, dass man mein Buch "Realitätsschock" liest und danach wieder in seine Wohlfühlzustände zurückfällt, ich befürchte sogar das Gegenteil. Ich glaube aber, es braucht im Moment eine gewisse Alarmiertheit und eine gewisse Erkenntnis, ein Schmerz der Erkenntnis.
Wir sehen das zum Beispiel – das ist das erste Kapitel – im Bereich Klima, da haben die westlichen Gesellschaften viel zu lange gedacht: Wir kriegen das schon irgendwie hin, wir haben ja auch das Ozonloch hinbekommen, wir haben das auch mit der Atomkraft einigermaßen hinbekommen, also kriegen wir das mit dem Klimawandel auch hin. Dass aber ein sehr viel tiefgreifenderes Problem hochgekommen ist, was uns alle jetzt schon trifft, das ist erst seit wenigen Jahren klar.
Es gibt nicht die eine Lösung
Welty: Wer Klima sagt, der sagt wahrscheinlich auch sehr schnell "Fridays for Future". Inwieweit kann diese Bewegung so etwas wie ein Role Model sein?
Lobo: Das ist ziemlich genau das, was ich versuche zu zeigen, dass jetzt die Hoffnung nicht in einzelnen Technologien liegt und auch nicht darin, dass man endlich eine Einzellösung findet, sondern die Hoffnung liegt eher darin, dass eine neue Generation ganz grundsätzlich anders an die Probleme rangeht, die wir haben.
Da ist "Fridays for Future" in der Tat eine Art Role Model, ich habe aber versucht, noch sehr viel mehr Rollenmodelle zu finden. Interessanterweise sind das junge Menschen, vor allem auch junge Frauen, weltweit – vom Sudan über Hongkong bis in die Vereinigten Staaten, auch in Europa –, die dafür kämpfen, diesen Realitätsschock produktiv zu verarbeiten.
Welty: Mit welchen Kompetenzen kämpfen die und mit welchen Mitteln?
Lobo: Die kämpfen mit der Kompetenz, dass sie aufgewachsen sind in einer vernetzten Gesellschaft und viel besser verstanden haben, wie sich diese Vernetzung produktiv wenden lässt.
Wir haben – und auch das kommt im Buch vor – eine Reihe von riesigen, auch sehr gefährlichen Problemen, die durch die digitale Vernetzung entstanden sind. Da sind diese jungen Menschen – "Fridays for Future" organisiert sich zum Beispiel stark über WhatsApp – ein Beispiel dafür, wie man solche digitalen Medien produktiv nutzen kann.
Welty: Und was bedeutet das denn für die Älteren, wie müssen sie ihr Verhalten oder auch ihre Kommunikationsstruktur ändern?
Lobo: Ich glaube, dass wir – da kann der "Realitätsschock" sogar helfen – erst mal zugestehen müssen, dass wir mit unseren Köpfen noch zum großen Teil im 20. Jahrhundert leben. Wir haben zwar ein paar moderne Aspekte schon angefangen zu benutzen, aber wirklich verinnerlicht haben wir das noch nicht. Da sind die jungen Menschen uns einfach voraus. Die haben von Anfang an den Blick des digital vernetzen 21. Jahrhunderts und können damit diese modernen Probleme aus meiner Sicht viel besser lösen. Und von diesen Problemen gibt es wirklich eine ganze Reihe.
Besonders junge Frauen engagieren sich
Welty: Was heißt das konkret? Ich habe bei "Fridays for Future" noch keine Lösung gefunden für die Klimakrise, in der wir stecken.
Lobo: Sehr konkret geht es zunächst darum, Menschen zu erreichen. Meine These ist, dass diese jungen Leute, die das organisieren – übrigens jetzt nicht nur im Bereich Klima, sondern in fast allen Bereichen –, dass diese jungen Leute aufgewachsen sind und teilweise schon hunderte Stunden in die Kamera gesprochen haben, obwohl sie erst 15, 16 Jahre alt sind. Das heißt, die wachsen im 21. Jahrhundert auf und haben ein eingebautes Medientraining. Dadurch können sie sehr viel intensiver und besser über solche Medien kommunizieren.
Das merkt man von der Freiheitsbewegung im Sudan, wo über 70 Prozent junge Frauen mit dabei sind, über Personen wie Emma González in den Vereinigten Staaten, die dort gegen die Waffennarren kämpfen, bis hin zu Leuten wie Greta Thunberg oder Luisa Neubauer. Ich glaube, der erste Punkt wäre, Menschen zu erreichen. Das können diese jungen Leute sehr gut. Der zweite und noch wichtigere Punkt ist, das eigene Leben, die eigenen Prioritäten zu verändern.
Welty: In Ihrem Buch lassen Sie quasi keinen Krisenherd aus – nicht den Brexit, nicht den Rechtspopulismus, nicht die Integration. Kann man all diese großen Themen tatsächlich über einen Kamm scheren?
Lobo: Nein, natürlich nicht. Ich versuche das auch gar nicht zu einem einzelnen Kamm zu erklären. Ich glaube nämlich, dass ein Muster dahinter die gesellschaftliche Reaktion ist. Realitätsschock bedeutet, huch, die Welt ist doch anders, als wir uns das gedacht haben.
Ich glaube, sich das einzugestehen und nicht immer darauf zu beharren, dass man eigentlich schon vorher alles wusste, das ist etwas, was unsere Generation, also die Menschen über 40, die jetzt vielleicht auch das Sagen haben, erst mal eingestehen muss. Und dass man in sehr vielen Bereichen diese Wunschvorstellung tatsächlich für die Realität gehalten hat.
Dann kommt der Klimawandel, dann kommt eine große Migrationssituation, die durchaus gefährlich ist, bei der Tausende Menschen sterben. Wir wissen nicht so richtig, wie wir damit umgehen, weil wir mit der Brille des 20. Jahrhunderts auf die Probleme des 21. schauen.
Auf dem falschen Weg
Welty: Wo finden wir denn die richtige Brille, die den Blick schärft?
Lobo: Ich möchte mir nicht anmaßen, die eine große Lösung anzubieten.
Welty: Schade!
Lobo: Das ist auch für mich sehr schade. Aber ich glaube, es geht vielmehr darum, dass man erkennt, auf Basis einer neuen Analyse der tatsächlichen Realität, nach diesem Realitätsschock, müssen wir neue Lösungen erarbeiten. Da sind die jungen Menschen aus meiner Sicht uns weit voraus. Die haben sehr viel schneller und produktiver erkannt, wie sich diese Probleme lösen lassen.
"Fridays for Future" ist nur ein einzelnes Beispiel, es gibt viele andere. Aus meiner Sicht gibt es nicht die eine neue große Lösung, deswegen biete ich die natürlich nicht an.
Ich glaube aber schon, sich erst mal einzugestehen, dass man bisher auf einem falschen Weg war, das ist die Grundvoraussetzung, um überhaupt Lösungen gemeinsam erarbeiten zu können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.