Sascha Reh - "Gegen die Zeit"

Ein historisches Experiment

Ein Datenzentrum von Facebook im schwedischen Lappland.
Science-Fiction? Alle Fabriken Chiles sollen von einem Rechner gesteuert werden. © AFP PHOTO/JONATHAN NACKSTRAND
Von Gerrit Bartels |
Ein Supercomputer, der die Industrieproduktion eines ganzes Landes zentral steuern soll: Das klingt nach einem Science-Fiction-Roman, was Sascha Reh in "Gegen die Zeit" erzählt. Das Buch ist in Chile vor und nach dem Pinochet-Putsch angesiedelt und basiert auf Tatsachen.
Wenn heutzutage vom 11. September und den Folgen die Rede ist, weiß jeder, um was es geht: um die Terroranschläge von 2001. In Chile jedoch ist der 11. September ein noch viel bedeutsameres Datum, putschte sich doch an diesem Tag des Jahres 1973 der General Pinochet ins Amt und setzte damit allen Hoffnungen auf eine gelingende, sozialistisch-demokratische Revolution unter dem gewählten Präsidenten Salvador Allende ein brutales Ende.
Da versteht es sich, dass Sascha Reh seinen neuen Roman "Gegen die Zeit", der im Chile vor und nach dem Pinochet-Putsch angesiedelt ist, genau mit den Ereignissen dieses Tages beginnt: "Während draußen geschossen wurde", hebt sein Ich-Erzähler an, "blieb ich in meinem Zimmer, hungrig, in dumpfer Sorge vor einer Infektion, in Gedanken bei Ana. Ich tat nichts als darauf zu warten, dass sie mich holten."
Hans Everding, so heißt Rehs Erzähler und aus Deutschland stammender Held, ist von Beruf Industriedesigner und seit zwei Jahren im Land. Er arbeitet in einem internationalen Team mit, das im Auftrag von Allende und unter Leitung des britischen Wissenschaftlers Stanley Baud alle Fabriken Chiles miteinander vernetzen und von einem zentralen Rechner aus steuern soll, ein frühes Cybernetprojekt, im Roman CORFO genannt.
Hans soll die Zentrale dieses Projektes einrichten, den sogenannten Opsroom, den Operationsraum, in dem alle Datenfäden verbunden werden, und mit all den anderen Allende-Anhängern ist er begeistert bei der Sache. Was hier nun extrem visionär klingt, hat es 1973 tatsächlich gegeben, unter den Namen "Cybersyn, sinergia cibernética" oder auch "Synco, sistema de información y control".
Rehs Roman basiert also auf wahren Tatsachen, auch viele seiner Figuren haben reale Vorbilder, wie der britische Wissenschaftler, der eigentlich Stafford Beer heißt, oder auch die Hauptfigur, die dem deutschen Gestalter und Designtheoretiker Gui Bonsiepe nachgebildet ist. Reh erzählt vor dem Hintergrund der wahren Ereignisse im steten Wechsel, wie Hans und seine chilenischen Kollegen und Mitarbeiter an dem Projekt arbeiten - und wie es ihnen nach dem Putsch ergeht: Die Pinochet-Schergen versuchen an die schon gesammelten Daten heranzukommen, um beteiligte Fabrikarbeiter und Allende-Anhänger verfolgen und unter Druck setzen zu können.
Wie ein Mann ohne Eigenschaften
Dem 1974 in Duisburg geborenen Reh gelingt es gut, die aufgeladene Atmosphäre in dem lateinamerikanischen Land zur Zeit von Allende und des Putsches zu schildern, unter anderem unter Einbeziehung des dreiwöchigen Staatsbesuches von Fidel Castro oder des von den Transportgesellschaften ausgehenden und gegen die Allende-Regierung gerichteten Generalstreiks, dessen schlimmsten Auswirkungen tatsächlich mit Hilfe von Cybersyn und 400 Fernschreibern abgemildert werden konnten. Hans Everding ist dabei immer mittendrin, wobei ihm selbst oft nicht klar ist, wie politisch motiviert er eigentlich ist, ob seine Ziele auch die von Ana, in die er sich verliebt, von Óscar, Ocatavio oder Hernán sind.
Rehs Hauptfigur wirkt wie ein Mann ohne Eigenschaften, ein sich nach Gefühlen zwar sehnender, aber vor allem technisch und politisch denkender Mensch, der schließlich, nachdem ihm Pinochets Leute versuchen auf ihre Seite zu bekommen, überhaupt nicht mehr weiß, wer Freund, Feind oder Verräter ist. Wie Hans Everding geht es einem manchmal auch bei der Lektüre von Rehs Roman: Der ist einerseits gut recherchiert, mit einem interessanten, in unsere Gegenwart verweisenden Thema, eben der Arbeit an diesem Datenprojekt, mitunter auch "sozialistisches Internet" genannt. Das wird einem selbst in seinen technischen Details gut vor Augen geführt. Hauptfigur und Nebenfiguren des Romans kommen dem Leser jedoch nicht wirklich nahe, sie wirken oft wie Platzhalter und werden von den Ereignissen getrieben.
Das individuelle Schicksal hat hier gegen die Zeitgeschichte nur wenig Chancen, und das ist dann in einem erzählendem Sachbuch besser aufgehoben als in einem Roman.

Sascha Reh: "Gegen die Zeit"
Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2015.
360 Seiten, 21,95 Euro

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