Der Schnee fällt inzwischen noch dichter, er gleicht einer Wand. Petja lässt seinen Blick über die Provinzstadt schweifen, die sich bis zum Horizont erstreckt. Über die düstere Kulisse aus asymmetrischen Holzhäusern und grotesk emporragenden Plattenbauten, in denen die Nachbarn einander Zellengenossen und Aufseher in einem sind. Rechts der Wald, links der Friedhof und ein Bahnübergang. Ein paarmal am Tag halten hier Güterzüge an und versperren die einzige Zufahrt zur Welt der Toten.
Sasha Filipenko: "Der Schatten einer offenen Tür"
© Diogenes
Tödliche Reise ins Glück
05:51 Minuten
Sasha Filipenko
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
„Der Schatten einer offenen Tür“Diogenes, Zürich 2024272 Seiten
25,00 Euro
Eine rätselhafte Suizidreihe, ein depressiver Ermittler und die Pest des Zynismus: Der neue Roman des belarussischen Autors Sasha Filipenkos führt in die russische Provinz. Er basiert auf verbürgten Ereignissen, die Dramatisches offenbaren.
Kann man zu viel Gutes tun? Kann man Menschen, die es nicht gewohnt sind, Schönes zu erleben, mit einem Geschenk alle Hoffnung nehmen? Das ist die Frage, um die Sasha Filipenkos Roman „Der Schatten einer offenen Tür“ kreist.
Die Geschichte spielt tief in der russischen Provinz, viele Flugstunden von Moskau entfernt, in dem Städtchen Ostrog. Ein Ort, Sasha Filipenko macht daraus erst gar kein Geheimnis, der zum Leben wenig geeignet ist:
Petja ist das, was man in Russland einen Gottesnarr nennt. Ein heiliger Irrer, der den Menschen die Wahrheit sagt. Petja grüßt auch die garstigsten Verkäuferinnen, weil der Anstand es gebietet.
Ein Gottesnarr in der russischen Provinz
Er kutschiert abends seine Kollegen kostenlos durch die Stadt, weil die Busse unzuverlässig sind. Und weil die Vögel sterben würden, kämpft er gegen eine Fabrik, die der starke Mann der Stadt, Arkadi Baumann, errichten will. Als Petja aber hört, was Baumann als Nächstes vorhat, gerät er in Panik:
‘Wir haben alle die Schnauze voll. Läufst hier rum und ziehst allen die Gedärme durch die Nase. Aber Tatsache ist, Petja, Tatsache ist, dass der Baumann sogar jetzt, während du hier sitzt und dich bei mir über ihn beschwerst, gerade dabei ist, für alle unsere Heimkinder eine Reise ans Meer zu organisieren.‘
‘An was für ein Meer denn jetzt wieder?’
‘Ans richtige, echte Meer! Während du die Leute zum Streik aufrufst, tut Baumann Gutes und lässt alle Kinder nach Griechenland fliegen!’
‘Im Ernst?!’
‘Ja!’
‘Aber das darf man nun wirklich auf keinen Fall tun!’
Kurz darauf liegt Petja mit ausgeschlagenen Vorderzähnen im Schnee, die Jugendlichen aus dem Heim fahren nach Griechenland und aus „Der Schatten einer offenen Tür“ wird eine Art Kriminalroman. Nicht wegen Petjas Vorderzähnen, sondern weil bald eine Serie mysteriöser Suizide beginnt, die nicht nur Ostrog erschüttert, sondern ganz Russland. Als die Sonderermittler Koslow und Fortow aus Moskau entsandt werden, um das Rätsel zu lösen, sind bereits vier Teenager tot. Teenager, die gerade noch in Griechenland am Meer waren und die Rückkehr in den Alltag nicht verkraften konnten.
Der Stoff, den Sasha Filipenko 2020 zu diesem Roman verarbeitet hat, geht auf reale Ereignisse zurück, die sich vor Jahren im nordostsibirischen Tschukotien abspielten. Ein tragischer Stoff, ein Stoff, der auch viel erzählt über das Russland von heute. Sasha Filipenko hat mit Pädagogen, Kriminalbeamten und ehemaligen Heimbewohnern gesprochen, um die Methoden Moskauer Ermittler und die Zustände in russischen Heimen zu beschreiben. Er erzählt von zynischen Erziehern, er erzählt davon, wie Jugendliche mit Psychopharmaka stillgestellt werden, er erzählt von Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit, von Macht und Ohnmacht und auch von Armut.
Moskauer Ermittler übernehmen
Warum Sasha Filipenko aus diesem bitteren Stoff allerdings einen Kriminalroman machen musste, bleibt sein Geheimnis. Seine Moskauer Ermittler sind Karikaturen: der eine alt, erfahren und gerade von seiner Frau verlassen, der andere jung, dumm und sexistisch. Auch den brutalen Lokalpolizisten, der die arroganten Kollegen aus der Hauptstadt schon aus Prinzip hasst, kennen wir zu Genüge. Und die in allen Details ausgemalte Polizeifolterszene ist nicht wahrhaftig, wie Filipenko wahrscheinlich glaubt, sondern voyeuristisch und unnötig.
All das wirkt wie aus einem literarischen 3D-Drucker und hat Folgen: Vor lauter Ermittlergewese und cleveren Popkulturreferenzen kommt Filipenko den eigentlichen Opfern der Geschichte, den Kindern und Jugendlichen, nie wirklich nahe. So nahe zum Beispiel wie die Journalistin Elena Kostjutschenko, deren Reportagen auf Deutsch im vergangenen Jahr erschienen sind.
Für eine ihrer Reportagen hatte Kostjutschenko volle zwei Wochen in einem sogenannten psycho-neurologischen Internat verbracht und so das Vertrauen der dort eingesperrten Kinder und Jugendlichen gewonnen. Das Ergebnis ist ein wahrhaft erschütternder Text voller Details, der zudem in jeder noch so bitteren Szene getragen wird von tiefer Zuneigung zu den Menschen, die er porträtiert. Nicht umsonst heißt Elena Kostjutschenkos Buch „Das Land, das ich liebe“. Sasha Filipenko hat gewiss ähnlich gute Absichten. Aber das genügt nicht.