Sasha Filipenko: "Rote Kreuze". Roman
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Diogenes Verlag, Zürich 2020
288 Seiten, 23 Euro
Im Bann der historischen Dokumente
05:53 Minuten
Das Schicksal eines sowjetischen Kriegsgefangenen und dessen Frau stehen bei Sasha Filipenkos Roman "Rote Kreuze" im Mittelpunkt. Der Autor setzt dabei auf Archivmaterial - und eine manchmal zu grelle Geschichte.
Für den 1984 in Minsk geborenen Autor Sasha Filipenko gehören Dokumente "zu den stärksten Drogen, die es gibt". Von ihnen geht seiner Meinung nach deshalb eine so starke Wirkung aus, weil sie einen mit der Wahrheit konfrontieren. Auf solchen "starken Drogen" basiert sein auch im russischen Original unter dem deutschen Titel erschienener Roman "Rote Kreuze".
Umgang mit Kriegsgefangenen
Zugrunde liegen ihm Materialien, die belegen sollen, wie die sowjetische Administration während des Zweiten Weltkriegs mit den in Kriegsgefangenschaft geratenen eigenen Soldaten umgegangen ist. Sie wurden als Verräter ihrem Schicksal überlassen und ihre Familien kamen als Volksfeinde in Gulags.
Da man Filipenko den Zugang zu den russischen Archiven verweigerte, musste er in der Schweiz recherchieren, wo er zahlreiche, in den Roman integrierte Dokumente vom Internationalen Roten Kreuz fand, die an die sowjetische Regierung geschickt worden waren. Darin sind die Namen von gefangengenommenen Soldaten aufgelistet, und zugleich wurden Vorschläge unterbreitet, wie man den Austausch der Kriegsgefangenen organisieren könnte. Diese Schreiben ließ die sowjetische Seite jedoch unbeantwortet.
Name von Liste gelöscht
Filipenko, der in Belarus auch als Drehbuchautor und Gagschreiber arbeitet, stellt in den Mittelpunkt seiner Geschichte die junge Tatjana Alexejewna, die auf einer Liste des Roten Kreuzes den Namen ihres Mannes entdeckt. Einerseits ist sie darüber froh, weiß sie doch nun, dass er noch am Leben ist. Zugleich aber fürchtet sie, verhaftet zu werden, wenn der Name ihres Mannes vom sowjetischen Geheimdienst entdeckt wird. Deshalb löscht sie seinen Namen von der Liste.
Dieses Ereignis aus dem Jahr 1941 ist im Roman zentral für das in der Gegenwart spielende Handlungsgeschehen. Die inzwischen an Alzheimer erkrankte 91-Jährige wohnt mit dem Ich-Erzähler Sascha auf demselben Flur eines Minsker Wohnhauses. Die beiden lernen sich durch ein rotes Kreuz kennen, das Tatjana zur besseren Orientierung auf Saschas Wohnungstür gemalt hat.
Während sich die alte Frau gegen das Vergessen wehrt, will Sascha den Tod seiner Freundin vergessen. Deshalb sträubt er sich zunächst dagegen, hineingezogen zu werden in die Biografie seiner Nachbarin, der es aber schließlich gelingt, den jungen Mann für ihre und die Geschichte seines Landes zu interessieren.
Zu intensiv gemalte Geschichte
Sascha fängt an zuzuhören, und was er erfährt, wirkt – wie die Dokumente auf den Autor – wie eine Droge. Das Schicksal dieser Frau, die nach dem Krieg verhaftet und in ein Arbeitslager verschleppt wurde, die alles verloren hat, lässt ihn nicht mehr los.
Was man aus diesem Roman über die Stalinzeit erfährt, erweist sich als ein weiterer Beleg der unmenschlichen Härte, die in Zeiten des roten Terrors alltäglich war. Auch für Tatjana war das Leiden nach dem Ende des Krieges nicht vorüber. Die von Flilipenko verwendeten Dokumente verleihen der Geschichte Gewicht.
Wie es ihm gelingt, auf der Grundlage dieser Materialien das Handlungsgeschehen zu entwickeln, macht seinen Roman lesenswert. Allerdings traut er seiner Geschichte zu wenig. Allzu oft meint er, dass man die eigentlich für sich stehende Handlung mit kräftigen, von der Gefühlspalette genommenen Farben, noch intensiver ausmalen müsse. Weniger wäre mehr gewesen.