Sasha Marianne Salzmann: "Außer sich"
Suhrkamp, Berlin 2017
366 Seiten, 22 Euro
Eine wilde, intensive Stimme
Sasha Marianna Salzmann mischt in "Außer sich" die Sprachen und wechselt die Geschlechter von einer Zeile zur nächsten. Ein atemberaubender Erzählfluss entsteht und eine Familienerkundung, die die Dramen des 20. Jahrhunderts behandelt.
So eine wilde, intensive Stimme hat man lange nicht gehört. Sasha Marianna Salzmann scheint, wie ihre Heldin Alissa, allem zu misstrauen: vor allem ihrer Muttersprache Russisch, ihrer Heimat erst recht und all den erträumten und erfundenen Geschichten ihrer Eltern und Großeltern.
Atemberaubender Erzählfluss
Russische, jiddische und türkische Wörter durchkreuzen den atemraubenden Erzählfluss, der die Familiengeschichte über vier Generationen von Moskau über Czernowitz nach Berlin, von Istanbul bis Odessa zu fassen versucht. Ohne Rast und Ruhe, da folgt eine den Worten, ohne genau zu wissen, wohin. Hinein in den Dschungel an Erinnerungen, die aufblitzen, herumwabern und wieder verlöschen. Denn nichts ist wirklich so gewesen, alles wird hinterfragt.
Sasha Marianna Salzmann, Hausautorin am Berliner Maxim Gorki Theater, hat all ihre Spielfreude und ihr dramaturgisches Können in das Schreiben ihres ersten Romans gepackt. "Außer sich" erzählt die Geschichte des Zwillingspaares Alissa und Anton, die Anfang der 90er Jahre mit ihrer Familie als sogenannte "Kontingentflüchtlinge" von Russland nach Deutschland ausreisen. Auf dieser 36-stündigen Zugfahrt in die neue Heimat erleben wir die anrührenden Geschwisterkinder zum ersten Mal: Im Waggon krallen sich Alissa und ihr Zwillingsbruder Anton gegenseitig in die Schulterblätter und halten sich fest; später, wenn man sie als "Judenschweine" durch westdeutsche Provinzstraßen jagt und verprügelt, halten sie danach einander, ihre Wimpern verhakten sich, (...) sie atmeten einander". Je wurzelloser die Zwillinge werden, desto mehr verschmelzen sie ineinander – bis Anton verwindet. Seine Postkarte, auf der einzig und allein Istanbul steht, wird für Alissa zum Aufbruch; ihre Reise an den Bosporus zu ihrem Bruder wird auch eine Suche nach sich selbst.
Familienerkundung und Weltgeschichte
In Istanbul ploppen bei Alissa all die Geschichten der Eltern und Großeltern aus Moskau und Stalingrad wieder auf; eine Familienerkundung, die zugleich die großen Dramen des 20. Jahrhunderts mit Krieg und Verfolgung abdeckt. Mit ihrer Heldin teilt Sasha Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren und in Moskau aufgewachsen, nicht nur das Jüdischsein und die Aus- und Einwanderungsgeschichte, sondern vor allem ihre Lust am Geschlechterspiel. So erlebt man das flirrende Nachleben Istanbuls buchstäblich als Transgender-Festival, man spritzt sich Testosteron und aus der Bartänzerin Ktüscha in Hotpants, mit der Alissa eine Affäre hat, wird kurzerhand Katho, dem schon der erste Bartflaum wächst.
Salzmann spielt atemraubend mit den Geschlechtern, es bedarf nur eines Zeilenumbruchs und schon verwandelt sich das Personalpronomen vom "sie" zum "er" - und das nicht nur einmal. Auch Alissa beschließt, wenn sie Anton schon nicht finden kann, selbst Anton zu werden. "Wenn du mich anschaust, bin ich ein er oder eine sie?" heißt es im Roman.
350 wilde Seiten
Mit ihrer Heldin Alissa, die Sasha Marianna Salzmann am Anfang ihres Romans in einer Art Regieanweisung als "Schwester, Bruder, ich" einführt, hat sie ein freies, wunderbar funkelndes Wesen geschaffen, das sich immer wieder neu erfindet. Beim Lesen dieser 350 wilden Seiten begreift man immer wieder, dass Identität nichts Festes, vielmehr etwas Fließendes ist, das es zu hinterfragen gilt. Was diesen Roman so stark macht: Mit großer Leichtigkeit, Sprunghaftigkeit und auch Spielfreude schreibt er darüber, wie viel Mut es zu einer solchen Verwandlung braucht. "Außer sich" ist ein kraftvolles Buch, das gegen alles anbrüllt, was Angepaßtsein bedeutet.