Ich bin auch ohne das Bewusstsein aufgewachsen, wie sehr die Ukraine unter der sowjetischen Okkupation gelitten hat. Das alles ist mir erst sehr spät klar geworden, als ich angefangen habe, Frauen um meine Mutter herum zu interviewen. Das sind wunderbare Menschen – natürlich alles Zivilistinnen, überhaupt keine Historikerinnen -, die etwas erlebt haben, von dem ich gespürt habe: Ich verstehe nur Bruchstücke.
Sasha Marianna Salzmann über ukrainische Wurzeln
Lange Zeit war die Ukraine für Sasha Marianna Salzmann, die russisch-ukrainische Wurzeln hat, einfach ein Land auf der Weltkarte. Erst spät begann sie sich intensiv mit der politischen und kulturellen Geschichte der Ukraine zu beschäftigen. © picture alliance / dpa / Georg Wendt
Leerstelle auf der emotionalen Landkarte
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Viele Jahre lang war die Ukraine für Autorin/Autor Sasha Marianna Salzmann nur ein Teil der Sowjetunion. Einige der Vorfahren sind ukrainisch. Doch klar wurde das Schicksal des Landes erst nach Gesprächen mit Freundinnen der Mutter.
„Meine Vorfahren stammen aus der Ukraine. Aber erst spät entstand meine innere Landkarte dieses Landes. Ich musste lernen, Fragen zu stellen und zuzuhören“, schreibt Sasha Marianna Salzmann in der "Neuen Zürcher Zeitung". Übertitelt ist der Essay, in dem es um die Suche nach den ukrainischen Wurzeln geht, mit „Der Grosse Hunger und das lange Schweigen“.
Der große Hunger - das Aushungern der ukrainischen Bevölkerung nach Dürren und Missernten in den 1930er-Jahren in Stalins Sowjetunion – ist unter dem Begriff Holodomor, Tötung durch Hunger, bekannt. Vor ein paar Jahren war dieser Holodomor auch ein Thema in Agnieszka Hollands Kinofilm „Mr. Jones“.
Lange kein Wissen über Ukraine
Der Film erzählt die Geschichte des britischen Journalisten Gareth Jones, der miterlebt, wie die Menschen in der Ukraine vor Hunger am Wegesrand zusammenbrechen und sterben. Jones schreibt darüber, wird jedoch zunächst nicht ernst genommen, sogar der Lüge bezichtigt.
Salzmann wurde 1985 in Wolgograd geboren, 1995 ging die Familie nach Deutschland. Salzmann ist nichtbinär, lebt aktuell in Berlin und arbeitet am Berliner Maxim-Gorki-Theater. Viele Jahre wusste Salzmann wenig über die Ukraine, außer dass sie Teil der Sowjetunion war.
Das Land am Rande
Das Wort bedeute auf Russisch „Land am Rande“, erklärt Salzmann. Genauso – als unbedeutend und randständig – sei die Ukraine bislang wahrgenommen worden. Michael Pompeo, bis 2021 US-Außenminister unter Donald Trump, habe dies mit einem ebenso brutalen wie vermutlich zutreffenden Satz formuliert: „Kein Mensch schert sich um die Ukraine.“
Aus persönlichen Geschichten entsteht ein Bild
Die Ukraine und deren wichtigste Städte – die Städte der Vorfahren - seien leicht auf der Weltkarte wiederzufinden. Auf der „emotionalen Landkarte“ jedoch sei lange Zeit eine Leerstelle gewesen, berichtet Salzman. Denn im Bewusstsein hieß die Herkunft: "aus der Sowjetunion". Diese Leerstelle konnte Salzmann nach den Interviews füllen.
Aus vielen persönlichen Geschichten der Frauen, die alle aus der Ex-Sowjetunion stammen, habe sich dann ein Bild zusammengesetzt. Salzmanns Beobachtung: Der Holodomor etwa sei von den Frauen vor allem als persönliches Schicksal erwähnt worden, weniger als nationale Katastrophe, der viele Ukrainer zum Opfer fielen.
Stalin und seine Schergen
Nach den vielen Gesprächen sei dann stückweise das gesamte Ausmaß des jahrzehntelangen Konflikts deutlich geworden. Was während der Sowjetzeit nicht erzählt und nicht unterrichtet worden sei, da es nicht der Staatsdoktrin entsprach:
„Wie sehr Stalin und seine Schergen die ukrainische Kultur auszurotten versucht haben. Ein netteres Wort dafür gibt es leider nicht.“
Stalins Politik sei also schuld daran, dass bis vor wenigen Jahren kaum jemand die Ukraine als politisch wie kulturell autonomen Staat wahrgenommen habe, betont Salzmann.
(mkn)