Saskia Warzecha: "Approximanten". Gedichte
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020
64 Seiten, 16 Euro
Hier sind wir alle Maschinen
06:17 Minuten
Ist das noch Naturlyrik? Saskia Warzecha schreibt Gedichte, die sich an der Logik von Computerlinguistik orientieren. Ihr Debütband "Approximanten" ist eine Anleitung zum genauen Beobachten der Welt.
"gezeiten: pluraletantum. stets vorläufige gegend. pran-
gert, krankt an. nipptide, kaprizen. [...]"
gert, krankt an. nipptide, kaprizen. [...]"
Kawumm! Ein Anfang als Ansage! Was ist hier eigentlich los? Die Gezeiten werden zunächst linguistisch als Mehrzahlwort definiert - "die Gezeit" gibt es so wenig wie "die Ferie" - dann kommt eine Verschiebung auf die Bedeutungsebene, Ebbe und Flut geben nur zeitweise Landschaften frei, also "vorläufig", hier könnte die Flut auch als "vorlaufendes Wasser" gelesen werden, das Zeugma "prangert, krankt an" bleibt rätselhaft und Nipptide mathematisch definierte Laune (der Natur?).
Das also findet Saskia Warzecha, wenn sie sucht, wenn sie ver-sucht, "sich einer wissenschaftlichen Sprache, einer fachbezogenen Einteilung der Welt zu bedienen, um Erleben sprachlich zu fassen", wie es in der Ankündigung zu ihrem Debütband "Approximanten" als Arbeitshypothese geschrieben steht.
Mit Präzision abbilden
In drei Kapiteln und auf nicht einmal 70 Seiten dreht und wendet Warzecha ihre Gegenstände, betrachtet sie von allen Seiten und in vielen Fachsprachen. Dass sie auch Computerlingustik studiert hat, zeigt sich in der Methode.
"Wenn du einer Maschine das Sprechen beibringen willst," hat sie einmal in einem Gespräch ausgeführt, "musst du mit großer Präzision abbilden, was erklärbar ist an dem, was wir da – ganz automatisch – täglich tun, und auch ganz von vorne anfangen bei der Frage, was das Sprechen und das Sprachverstehen überhaupt ist."
Ziemlich genau das tut die 32-Jährige in ihren Gedichten. Nur dass wir alle hier die Maschinen sind.
Wer wie Warzecha die Logik auch noch hinter den kleinsten Bereichen in der Sprache erforschen will, der braucht für diese Operation ein großes Besteck. Warzechas semantische Suchbewegungen sind wilde Bocksprünge, die Perspektive des lyrischen Ichs wirkt oft prekär:
"mein gespür für alles nicht-funktionale: granularitäten,
verschwommenheitsgrade. mitmenschsein/leihmütter-
chen, nur dann bürde, wenn nicht alles mensch ist. dem
objektemacher stehen ähnlichkeiten zur verfügung."
verschwommenheitsgrade. mitmenschsein/leihmütter-
chen, nur dann bürde, wenn nicht alles mensch ist. dem
objektemacher stehen ähnlichkeiten zur verfügung."
Kunst als Laserstrahl
Diese Gedichte haben etwas Etüdenhaftes. Es sind Übungen in Genauigkeit. Aber je näher wir mit Saskia Warzecha auf ihre Worte schauen, desto ferner schauen die zurück. Jede Etüde hat Noten, jedes Spiel Regeln, sonst macht das alles keinen Spaß. Manchmal scheint sich in diesen Texten irgendwo das Spielerische zu verselbständigen. Oder, um Karl Kraus noch einmal zu zitieren: "Kunst ist Lichtsynthese", und Warzechas Kunst ist ein Laserstrahl, der hier und da zum Blendstrahl wird.
Das wahrscheinlich unbeliebteste Attribut für Debütanten heißt "vielversprechend", umso mehr, als Saskia Warzecha gar keine Anfängerin ist. Sie hat in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht, war Finalistin des Open Mike und hat 2017 den Münchner Lyrikpreis gewonnen.
Trotzdem erlauben wir uns zum Schluss die freudig-freundliche Feststellung: Wir freuen uns auf den nächsten Band. Der wird sicher noch besser werden.