Saties "Quälereien" als 28-Stunden-Live-Konzert

Von Laf Überland |
Das Stück selbst dauert circa eineinhalb bis zwei Minuten, muss aber 840 mal wiederholt werden. Es handelt sich um Erik Saties Klavierkomposition "Vexations", die nun fast unbemerkt von der Öffentlichkeit in Berlin aufgeführt wurde.
Das Stück selbst dauert circa eineinhalb bis zwei Minuten, muss aber 840 mal
wiederholt werden. Es handelt sich aum Eric Saties Klavierkomposition "Vexations", die der Klaviertechniker der Berliner Philharmoniker, Thomas Hübsch, im Spiegelsaal von "Clärchens Ballhaus" aufführen ließ.

Sonntagmorgen, 5.55 Uhr. Zehn Leute sind da, als Cedric Pescia zur ersten Stunde Quälereien von Erik Satie ansetzt. Auf einer kleinen Empore am Saalende steht ein wunderschöner Flügel von Steinway & Sons. Um 20 nach 6 erscheint ein ganzer Trupp von Leuten tatsächlich wegen der Qualereien. Von einem Stock tiefer kommen übrig gebliebene Partygäste nach oben, um sich in einen wundersam entspannenden Schlaf spielen zu lassen. (Eine schläft beim 330. Durchgang noch hinten auf einem Sofa, da ist es 15 Uhr.)

Simon Rattle hat abgesagt, kurzfristig, er hat wohl Wichtigeres zu tun; der große alte Alfred Brendel hingegen musste sich in London einer Operation unterziehen und rief noch halb in der der Narkose an und erkundigte sich. Michael Nyman aber kam, um Satie die Seele auszuhämmern, und selbstverständlich ließ Daniel Barenboim sich das kurze Gastspiel bei diesem seltenen Ereignis nicht entgehen.

Daniel Barenboim: "Hübsch ist mein Freund und der hat mich da eingeladen, und für Freunde geht man, wenn man eingeladen ist, nicht wahr."

Hübsch, das ist Thomas Hübsch, Klaviertechniker bei den Berliner Philharmonikern: Er ist es, der diese Dauerquälerei finanziert hat. Warum? Weil er das unbedingt so gerne mal auf die Bühne bringen wollte. Und weil alle irgendwie Mitwirkenden das umsonst angeboten haben.
Neben zwei Händen voll hauptberuflichen Pianisten hat Thomas Hübsch noch eine Phalanx von klavier-affinen Exoten angeheuert: zum Beispiel das siebenjährige Mädchen, das eine Gedicht über die Traurigkeit des Stückes geschrieben hatte. Oder den Epilepsieforscher mit Interesse für Saties Gedanken, den Mathematiker, den Lufthansapiloten, den Ehrenpräsidenten der Deutschen Internistenvereini¬gung und das klavierspielende Ex-Model: Und sie alle fügen sich ein in diese fließenden Schichtwechsel, wenn die Linke der ein Schicht noch auf den Tasten ruht und die Rechte der nächsten schon ansetzt.

Dafydd Llywelyn, 71, walisischer Komponist und nebenbei Urgründer der späteren Erfolgsband Supertramp: Mit Stock mit silberner Raubkatze als Knauf schlurft er zum Klavierhocker. Fliegender Wechsel: Schichtübergabe am rotierenden Werkstück sozusagen. Llywelyn war auch schon bei der deutschen Uraufführung in Berlin 1966 dabei, bei der es nicht so positiv gestimmt zuging wie diesmal.

Dafydd Llywelyn: "Dieses Stück Satie ist eine Mischung aus Dada und Dostojewski. Das ist etwas sehr sadomasochistisch und sehr merkwürdig."

Oben, in der winzigen Garderobe hinterm Spiegelsaal, sind die Organisatoren und Helfer derweil aufgeregt wie beim Kindergeburtstag. Immer wieder muss bei der Logistik nachjustiert werden, wenn dieses Monstrum von Aufführung nicht exakt nach Plan abläuft.

Vor der Bühne kommt und geht ein Publikum jeden Alters – Kinder, die sich vergeblich bemühen, leise über den schrecklich knarrenden Boden zu schleichen; junge Männer, die sich offensichtlich einem musikalischen Abenteuer aussetzen; ältere Männer und Frauen, die schon eine Ewigkeit da sitzen und deren Geist anscheinend immateriellen Gegenständen in Zeit und Raum hinterherhuscht - und die versunken den Verfall – DIE ZEIT an sich! – betrachten in den riesigen, zerplatzten Spiegeln an den Wänden in diesem weltkriegsbeschädigten und zeit-angenagten Saal mit seinen zerbröselnden Wandreliefs und diesem schrecklich knarrenden Boden, der die größte Quälerei von allen ist!

Es ist ein metaphysisches Erlebnis, sich auf diese seltsame Durchbrechung, Verbiegung, Verlangsamung von ZEIT einzulassen und die vielen emotionalen Räume, die man bei diesen 840 Durchgängen durchschwommen hat, vor allem jedoch diese verschworene Absurdität: diese freche subversive Zeitverschwendung (im positiven Sinne): - so großzügig mit der angeblich so lebensbestimmenden, so geldwerten Ressource Zeit umzugehen. Cedric Pescia, der den Reigen auch eröffnet hat, schließt ihn um kurz vor acht am Morgen ab – mit einem Clou: Er spielt die letzte Note einfach nicht mehr... Alles bleibt offen.

Cedric Pescia: "Nee, das geht weiter... Ich hatte so viel Angst vor dem Schluß, das ist so viel schwieriger als anzufangen. Aber so ist jetzt eben alles offen."