Saul Friedländer: Erzählen, Erklären. Gespräche mit Stéphane Bou
Aus dem Französischen von Nicolaus Bornhorn
Kampa Verlag, Zürich 2019
254 Seiten, 24 Euro
Ein Jude, definiert nur durch die Shoah
05:38 Minuten
Saul Friedländer, einer der bedeutendsten Historiker des Holocaust, gibt in einem neuen Gesprächsband Auskunft über sein Leben und Schaffen – und führt exemplarisch vor, was es heißt, differenziert zu denken.
Von 2012 bis 2014, knapp zwei Jahre lang, unterhielt sich der französische Kinoexperte Stéphane Bou mit dem in Prag geborenen Historiker Saul Friedländer. Anfang der 1980er-Jahre hatte Friedländer seinen Essay "Kitsch und Tod" veröffentlicht, in dem er sich auch mit den Filmen Hans-Jürgen Syberbergs und Rainer Werner Fassbinders auseinandersetzte. Ursprünglich wollte Bou mit ihm nur über die Probleme der künstlerischen Darstellung des Nazismus sprechen. Aus dem Gespräch über Ästhetik wurde ein grundsätzliches: über die Aufgabe und die Möglichkeiten eines Historikers, über den Versuch die Shoah zu verstehen, über Friedländers Beziehung zum Judentum und entscheidende Stationen seiner beruflichen und persönlichen Entwicklung.
"Erzählen, Erklären" kann man als eine Art Werkstattgespräch lesen. Oder als Einführung in die Arbeiten Saul Friedländers, als Hintergrundbericht und Selbstverortung des in Los Angeles lebenden Historikers, der zu dem Schluss kommt: "Ich würde mich nicht in erster Linie als Israeli definieren, und auch nicht als jemand, der seine jüdische Identität, mit all den kulturellen, religiösen und nationalen Konnotationen, die damit heutzutage verbunden sein mögen, wiedergefunden hat." Er sei, so Friedländer, "ein Jude, definiert nur durch die Shoah".
Lange hielt er das Thema Shoah von sich fern
Die Entstehungsgeschichte seines zweibändigen, epochalen Hauptwerkes "Das Dritte Reich und die Juden" steht entsprechend auch im Mittelpunkt der Gespräche. Friedländer beschreibt, wie er mit sich und dem Stoff gerungen hat, wie er das Thema Shoah lange von sich fernhielt und wie ihn die Arbeit daran veränderte.
Bereichernd sind die Abschweifungen. Nicht streng chronologisch wird erzählt, sondern direkt aus dem Gespräch entstehen Themenwechsel, die zu Horizonterweiterungen führen. Man bekommt Kontext geliefert – zur Verfasstheit der bunderepublikanischen Psyche (am Beispiel des Films "Heimat" von Edgar Reitz). Aber auch zu der mehrere Phasen durchlaufenden Entstehung einer Erinnerungskultur und den unterschiedlichen Weisen einzelner Historiker, den Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg zu deuten. Friedländer geht detailliert auf Claude Lanzmann, Hannah Arendt und Raul Hilberg ein, stellt seine Auseinandersetzung mit Martin Broszat ausführlich dar, aber auch die Anregungen, die er - durchaus im negativen Sinn – von Ernst Nolte oder fruchtbar durch die Arbeit seines Kollegen Hayden White erfahren hat.
Ungemein einnehmend ist dabei der gelassene, faire, aber immer eindeutige Standpunkt Friedländers, der nicht nur als ausgezeichneter Wissenschaftler, sondern immer auch als feinfühliger Mensch erkennbar wird.
Die Kraft des Erzählens
Gerade dieser Tage sind die Gespräche mit Saul Friedländer, in denen es eben auch um Antisemitismus und einen angemessenen Umgang mit Erinnerung geht, enorm wichtig. Sie schaffen Problembewusstsein. Zeigen sie doch, wie komplex bestimmte Phänomene beschaffen sind, wie lohnenswert Nachdenken und Differenzierungsvermögen sind, wie wenig man martialisch seine Standpunkte vertreten kann und welche Kraft das Erzählen besitzt.