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Wenn Molière nach Brasilien fliegt
Weit über 400 Werke hat Darius Milhaud komponiert, die meisten in verschiedenen Fassungen. "Scaramouche" ist eines der schönsten davon: französische Musik mit entspanntem Samba-Flair. Eine diskographische Suche nach der Kunst der Coolness.
Die Musik des 20. Jahrhunderts ist reich an unterschiedlichsten Stilen und Personen, eine Zeit voller Widersprüche, Umbrüche und ideologischer Grabenkämpfe. Wenige Künstler haben all diese Stile und Tendenzen so in sich aufgenommen wie Darius Milhaud – sein reichhaltiges Schaffen bringt das Jahrhundert in hochverdichteter Form zum Klingen. "Scaramouche" zeigt, wie unterhaltsam Milhaud dabei komponieren konnte.
Er hat viel komponiert und wird wenig gespielt – eine der Ausnahmen aus dem Werk von Darius Milhaud bildet den Rahmen für dieses Gespräch mit dem Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher. Die 1937 uraufgeführte "Scaramouche"-Suite gehört zu den mitreißendsten Werken der an Höhepunkten nicht armen Literatur für zwei Klaviere, aber sie geht auf eine völlig anders instrumentierte Schauspielmusik zurück.
Frei flottierende Fantasie
Das zugrundeliegende Bühnenwerk, "Le médecin volant" ("Der fliegende Arzt"), ist eine skurrile Komödie von Molière. Ihre Begleitmusik hat Milhaud in Anlehnung an eine Figur aus der Commedia dell'arte "Scaramouche" genannt.
Der Geist des Komponisten war weltumspannend genug, um diese Vorlage in eine freie Fantasie zu verwandeln, die mit Samba-Klängen endet. Musik, die Milhaud bei einem zweijährigen Aufenthalt in Brasilien kennen- und lebenslang lieben gelernt hatte.
Auf der Suche nach der verlorenen Lockerheit
Viele Klavierduos haben dieses Werk aufgenommen, weil es ein schlichtweg dankbarer "Rausschmeißer" ist. Und so klingt es leider auch oft genug: wie eine schnell zusammengesuchte Zugabe, die gespielt wird, nachdem die Anspannung des Auftritts nachgelassen hat. Allerdings ist der lässige Charme, den diese Musik vermittelt, Ergebnis harter und durchgehend virtuoser Arbeit am Klavier.
Wie alle Komponisten der französischen "Groupe des Six" begeisterte sich Milhaud für die frisch nach Europa importierte Jazzmusik. So kehrte er im Auftrag von Benny Goodman auch gerne noch einmal zu diesem Werk zurück und schrieb eine äußerst anspruchsvolle "Scaramouche"-Version für Klarinette und Klavier.
Fassungen und Fundstücke
Die Klarinettenfassung, wahlweise auch mit Saxophon zu spielen, liegt wiederum in einer Orchesterversion vor, die allerdings weniger pointiert ist als das ursprüngliche Duo. Leider ist Goodmans Interpretation nicht überliefert, aber die Aufnahme einer brillanten Interpretin wie Sabine Meyer ist dafür mehr als nur eine Entschädigung.
Einspielungen der anderen zahlreichen Werke Milhauds sucht man dagegen oft vergebens, abgesehen von frühen Erfolgsstücken wie "La Création du monde" und "Le Bœuf sur le toit". Wenn man die Linie der vielfach be- und verarbeiteten Schauspielmusiken durch Milhauds Werk weiterverfolgt, stößt man schnell an diskographische Grenzen. Bisweilen findet man aber auch Kurioses, etwa ein Duo für das elektroakustische Instrument Ondes Martenot und Klavier oder die Musik zum Schauspiel "Christophe Colomb" von Paul Claudel.
Milhauds Kolumbus-Musik war in den frühen 1950ern Jahren das erste Werk, mit dem sich ein französischer Komponist in seiner neuen Rolle als Dirigent vor den Mikrofonen bewährte: Dieses Schallplattendebüt von Pierre Boulez ist seitdem nicht wieder aufgelegt worden. Hier ist es zu hören – im Vergleich mit der ebenfalls raren Oper "Christophe Colomb", die Milhaud zum gleichen Text, aber mit völlig anderer Musik komponiert hat.
Jenseits der historischen Persönlichkeit war Kolumbus für den grenzenlos neugierigen, dabei über Jahrzehnte hinweg an den Rollstuhl gefesselten Milhaud eine Symbolfigur des Aufbruchs und der Entdeckung. Nun ist es an uns, den Kontinent Milhaud zu erkunden.