Schachboxen in Berlin

Die philosophische Substanz des Sports

Zwei Boxer und ein Schiedsrichter beugen sich über ein Schachbrett
Erst Kopf zermartern, dann Köpfe einhauen: Schachboxen in der Platoon Kunsthalle in Berlin © imago sportfotodienst
Von Thomas Jaedicke |
Drei Minuten Schach, drei Minuten Boxen - ursprünglich war dies nur eine Idee des Comic-Künstlers Enki Bilal. In Berlin setzt ein Promoter diese Idee seit einiger Zeit in die Wirklichkeit um: Er hält Schachboxen für den "Sport der Zukunft".
Vor 25 Jahren hatte der französische Künstler Enki Bilal in seiner Comic-Trilogie "Alexander Nikopol" eine Welt entworfen, in der alles nach bestimmten Regeln bewertet wird, wie in einer Diktatur. Und Schachboxen ist in dieser düsteren Science-Fiction-Geschichte der perfekte Maßstab, um die Menschheit zu beurteilen:
"Das ist ein Sport, den ich mir 1990 ausgedacht habe. Also vor sehr langer Zeit. Im letzten Jahrhundert. Als Ausgangspunkt diente die Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Beurteilung, das Vermessen aller Aspekte des Lebens, zur Grundregel geworden ist. Man vermisst die Intelligenz, man vermisst die Gewalt, man vermisst die Dummheit, die Verblödung. Man vermisst die Schönheit."
Enki Bilal blickt nachdenklich in die Kamera, neben ihm steht das gezeichnete Bild einer schlafenden Frau.
Der französische Comickünstler Enki Bilal in seinem Atelier. In seiner "Nikopol"-Trilogie erfand er das Schachboxen.© imago/Sophie Bassouls/Leemage
Und Bilal weiter: "Die beiden Sportarten stehen im krassen Gegensatz zueinander. Auf der einen Seite die brutale Gewalt und auf der anderen die allesübersteigernde Finesse des Intellekts. Das Boxen und das Schachspiel. Den Raum zwischen diesem Gegensatz, das könnte man fast als den philosophischen Körper des Sports bezeichnen."

Wenn die Realität die Fantasie überholt

Enki Blilal war begeistert von der Idee, die ihm fast wie eine Karikatur erschien. Damals dachte er vielleicht höchstens im Traum daran, dass diese Utopie eines Tages wirklich werden würde. Aber mittlerweile hat die Realität die Fantasie überholt:
"Herzlich willkommen hier in der Kunsthalle Platoon! Mein Name ist Andreas Dilschneider, ich bin der Moderator und Schachkommentator dieses Abends. Und heute Abend werden wir zwei Schachboxkämpfe sehen..."
Die Platoon-Kunsthalle ist ein eckiger Kasten auf der Schönhauser Allee. Da wo die Coolness der Hipster den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg fast schon versiegelt hat. Wo für Normalsterbliche kaum noch Luft zum Atmen bleibt.
"...im ersten Kampf des Abends haben wir einen Schwergewichtskampf zwischen Sven Markschläger und Raphael Schulz…"
Zigarettenqualm wabert durch den hohen Raum. Etwa 400 Zuschauer drängen sich im Halbdunkel um den Boxring. Es ist die klubinterne Meisterschaft des ersten Schachboxvereins der Welt, des Chess Boxing Club Berlin.

Ernst gemeint oder augenzwinkernder Flirt mit dem Ludenlook?

Parfumdüfte hängen schwer in der Luft. Frauen in eng anliegenden Kleidern wippen in Pumps auf und ab. Sterben würden sie für einen Blick auf die Kämpfer. Die wichtigsten männlichen Hauptdarsteller außerhalb des Rings, die Hemden lächerlich weit aufgeknöpft, tragen überwiegend Schwarz. Leder oder Anzug. Viele schwere Halsketten sind zu sehen und jede Menge protzige Uhren.
Eine Treppe mit schwarzgekleidetem Publikum, ein Boxer kommt gerade herunter.
Das Publikum beim Schachboxen in Berlin© imago sportfotodienst
Ist das alles hier ernst gemeint? Oder bloß die ironisch-übersteigerte Antwort der Hauptstadt auf den ewigen Ludenlook, das glamourös-prollige Outfit der Boxerszene?
"Is klar, wir sind hier mitten in Berlin, im Platoon. Und da hat man natürlich das übliche Gehalt an Hipster. Also ich dachte, ich zieh mal was Feines an."
O.k. Das ist gelungen! Würden Sie sich eher dem Boxerlager oder dem Schachlager zuordnen, wenn Sie das selber einordnen müssten?
"Also, ich muss ganz ehrlich gestehen, ich komme aus beiden Lagern. Ich habe, als ich jung war, von meinem Vater Schach gelernt, und er war auch ein großer Boxfan. Und dementsprechend habe ich beide Sportarten – sozusagen – verinnerlicht und komme ich sowohl aus´m Schach wie aus´m Boxen."

Faszinierende Comicwelten

Iepe Rubingh, der Geburtshelfer des Chessboxings, trägt Anzug. Eine wuchtige 70er-Jahre-Sonnenbrille, mit Gläsern beinahe so groß wie Fernseher, hat er lässig in die dichte, satt gegeelte Haarpracht drapiert. Vor 17 Jahren kam der Holländer als abgebrochener Kunststudent mit einem Koffer nach Berlin, machte Aktionskunst und Installationen.
"Was passiert mit Ideen? Ich meine, man sieht Sachen und Jahre später kriegen sie eine Bedeutung. Man sammelt ja alles Mögliche. Ich fand das immer faszinierend, diese Sportarten, die Enki Bilal erfunden hat. Er hat ja auch Eishockey erfunden mit Messer am Ende der Sticks. Ganz hinten im Kopf wurde das abgespeichert."
Iepe Rubingh steht im Boxring vor einem Tisch mit einem Schachbrett.
Iepe Rubingh eröffnet eine Runde Schachboxen© imago sportfotodienst
Nach sechs Jahren in der kreativen Berliner Szene erinnerte sich Iepe Rubingh an seine Kindheit in Rotterdam.
"Mein Vater hat mir nicht nur das Schachspiel beigebracht und die Leidenschaft für Boxen. Aber der hat auch eine Sammlung an Comics. Hochwertige Comics. Die Belgier, die ganzen Franzosen, Jodorowsky, Boek."
Vor zehn Jahren begann Iepe Rubingh, Enki Bilals Chessboxing-Fantasie aus den Tiefen seines Gedächtnisses in die helle Wirklichkeit zu holen. Am 22. November veranstaltet Rubingh, der als erster Schachboxweltmeister in den Geschichtsbüchern steht, in Berlin die nächsten Schachbox-Weltmeisterschaften.
"Also alles war da. Und das habe ich mir gelesen, da war ich, glaube ich, 16. Und später kam das dann alles zusammen."

Boxende Schachspieler, Schach spielende Boxer - gibt es das?

Aber kann das überhaupt funktionieren, diese extrem komplexen Einzel-Kämpfer-Disziplinen, Schach und Boxen, miteinander zu verschmelzen? Ist Schachboxen mehr als ein überdrehtes künstlerisches Experiment? Mehr als ein aufgemotztes Event?
Beide Sportarten stehen nicht gerade mitten im Fokus des Interesses. Das intellektuelle Brettspiel hat zwar noch nie Massen bewegt, aber der einstige Publikumsmagnet Boxen verkommt inzwischen sogar in seiner Hochburg USA zu einem irgendwie anachronistischen Entertainment in Glücksspielstädten. Gibt es überhaupt Berührungspunkte? Boxer, die in der Lage sind, Schach zu spielen? Schachspieler, die bereit sind, in einen Boxring zu steigen?
"O.k…ich rufe den ersten Kämpfer in den Ring: Sven Markschläger!"
Sven Markschläger ist noch nicht allzu lange Schachboxer.
"Boxen ist sehr anstrengend, bis man so die ersten paar Einheiten, bis man reinkommt. Weil das Ganze, Fuß-Hand-Koordination, ist nicht so trivial, wie man sich das so aus Actionfilmen oder Kneipenschlägereien vorstellt. Man muss da schon dahinter bleiben, muss schon ordentlich trainieren, bis man das wirklich drauf hat, dass es gut funktioniert, dass man die Energie auch spart, während man beim Kampf ist."
Vor zwei Jahren hat der 37jährige, der seit 30 Jahren Handball spielt, Schachboxen entdeckt. Für Sven Markschläger ist die Kombination dieser gegensätzlichen Sportarten ideal, ein perfektes Workout als Ausgleich zum stressigen Bürojob.
"Und gerade diese Ambivalenz zwischen Boxen und Schachspielen im Sinne: Du bist wirklich so voller Adrenalin und hast gerade irgendwie eine Runde Sparring gemacht und gehst dann ans Schachbrett zurück und musst dich so runteratmen und dir nochmal ins Bewusstsein rufen, was für eine Eröffnung spielt der Gegner? Was für eine Bedrohung herrscht da gerade? Wie kannst Du clever reagieren? Mir persönlich hilft das in allen Lebenslagen. Sei es im Job, sei es mit Menschen umzugehen. Also wirklich sehr gut hin und her switchen zu können zwischen diesen beiden Extremen."

Trashiger Glamour

Auch für Svens Gegner, den 28jährigen Raphael Vincent Schulz, ist es der erste Kampf überhaupt. Die Einlaufrituale, die Musik zum Walk-In, die Türstehertypen, die bienenfleißigen Sekundanten, die Machoposen: In vielen Details gleicht die Inszenierung des Abends den durchgestylten Profiboxshows. Der introvertierte Schachfreund kann bei so viel trashigem Glamour leicht übersehen werden.
"Men will fight! Kings will fall", ruft der Moderator. "Before the end of the night one will stand before all!"
Beiden Sportlern ist ihre Nervosität, die enorme Anspannung, bevor die Glocke zur ersten Runde schlägt und es endlich losgeht, ziemlich deutlich anzumerken.
Der Kampf beginnt mit einer dreiminütigen Runde Schach:
"Erste Runde, Schach! O.k., wir starten gleich munter drauf los. Mit einer klassischen Neun-Minuten-Bedenkzeit haben die beiden Kämpfer auf jeden Fall weniger Zeit. Mit was für einer Eröffnung haben wir es zu tun, Arik?"
Das Spielbrett steht auf einem Tischchen in der Mitte des Rings. Auf zwei Hockern haben die Kontrahenten, bis auf die Handschuhe schon in voller Boxkleidung, Platz genommen. Während des Schachspiels tragen sie riesige Kopfhörer, um möglichst wenig von dem Lärm in der Halle mitzubekommen. Sie müssen sich jetzt voll auf das komplizierte Spiel konzentrieren.

Der Großmeister analysiert live

"Damengambit. Beide scheinen relativ gut vorbereitet zu sein. Ziehen ihre Züge relativ schnell und wissen, was sie machen. Ja, was auch halt wertvoll ist, am Anfang Zeit sparen... - aber, was wir jetzt schon sehen: Die beiden sind auf jeden Fall aufgeregt, da wird schnell gezogen."
Damit alle Zuschauer am Ring die Schachpartie im Ring gut verfolgen können, wird das Spiel von Großmeister Arik Braun live kommentiert und auf einem computeranimierten Schachbrett, das per Video-Beamer für alle gut sichtbar an die Hallenwand projiziert wird, fast simultan analysiert.
Ein Boxkampf im Ring
Nach dem Schach werden härtere Bandagen aufgezogen.© imago sportfotodienst
Sven Markschläger und Raphael Schulz, abgeschirmt unter ihren klobigen Kopfhörern, die sie wie futuristische Insekten aussehen lassen, bekommen davon nichts mit.
"Rafael hat gerade den Läufer bekommen. Was gut ist, weil Springer ja normalerweise bisschen weniger wert ist als ein Läufer. Und relativ geschlossene Struktur in dieser Partie mit c5, wie wir ja gesehen haben, Weiß hat Bauer c4-c5 gezogen und damit die Zentrumsbauern, das sind die Zentrumsbauern, auf der e- und auf der d-Linie, festgelegt…"

Schwitzende Boxer machen ihre Züge

Zwei muskulöse Männer, mit freiem Oberkörper und in kurzen Hosen, schwitzend über einem Schachbrett im Boxring brütend. Ein ungewöhnliches Bild. Wenn die für den Kampf bandagierten Boxerhände nach den kleinen Schachfiguren greifen, ist das fast so, als ob ein Automechaniker anfinge, mit ölverschmierten Händen in einer wertvollen Erstausgabe zu blättern.
Zehn Sekunden noch - und die erste Schachrunde ist vorbei. Ein spärlich bekleidetes Nummerngirl erscheint. Eine weiße Papptafel mit einer großen schwarzen Zwei in den Händen haltend, entert sie, auf Pfennigabsätzen zwischen den Ringseilen hindurchkletternd, das Geviert. Betont lässig, mit einem Fuß das untere Ringseil niedertretend, erleichtert der Punktrichter – weißes Hemd und schwarze Fliege – ihr galant den Auftritt. Sven und Raphael, noch ganz in Gedanken an die gerade eben unterbrochene Schachpartie, erheben sich zögernd von ihren Hockern, nehmen die Kopfhörer ab, gehen in ihre Ringecken. Dort helfen ihnen Trainer und Betreuer, die unförmigen, dickgepolsterten Boxhandschuhe anzuziehen. Schachtisch und Hocker werden eilig aus dem Ring gehoben.

Der Kommentator studiert Mathe und Physik

Schachkommentator Arik Braun, der den Kampf fürs Publikum analysiert, ist selbst ab und zu als Schachboxer aktiv. ""Also, es ist schon ein krasser Unterschied. Aber man muss in beiden Sportarten irgendwie taktisch agieren", sagt er.
Außerdem spielt der 25-Jährige in der Schachbundesliga für Eppingen. Mit dem Geld, das er damit verdient, finanziert er sein Mathematik- und Physikstudium in Berlin.
"Man muss irgendwie gucken, wo sind die Schwächen des Gegners. Wie kann ich die ausnutzen. Wo sind meine Stärken? Wo sind meine Schwächen? Quasi eine Art Selbstreflexion, damit man weiß, wo man gewinnen kann."
Ist das in beiden Sportarten so, dass man sehr stark an die Grenzen geht? Also, dass man beim Boxen – sowohl mental als auch körperlich – an die Grenzen kommt? Und beim Schach so ähnlich? Kann man das vergleichen?
"Boxen ist auf jeden Fall an die Grenzen gehen. Vor allem, in den Ring zu steigen, erfordert viel Mut. Ich habe vor zwei Jahren gekämpft, das kostet auf jeden Fall Überwindung. Im Schach geht man halt eher mental an die Grenzen. Es ist deutlich schmerzhafter, im Boxen zu verlieren als im Schach - offensichtlich, ja. In dem Sinne ist beides irgendwie Kopfsache."

Ring frei zur zweiten Runde

Raphael und Sven kommen aus ihren Ringecken, bewegen sich aufeinander zu - vorsichtig, geduckt, abwartend zunächst. Die etwa gleichgroßen und gleichschweren Männer haben Respekt voreinander. Keiner von beiden will in dieser frühen Kampfphase zu viel riskieren. Nach einer knappen Minute des Belauerns eröffnet Sven Markschläger den Schlagabtausch.
"Ich habe mich eigentlich gut gefühlt. Hab den ganzen Tag zuhause gesessen und irgendwie sowas wie Air gehört, also ganz beruhigende Musik."
Hektisch treibt der 37jährige seinen fast zehn Jahre jüngeren Gegner durch den Ring, versucht Raphael Schulz zu stellen, ihn mit einer Serie von Schlägen einzudecken.
"Und ich hatte, bis ich im Ring stand, immer den Plan: O.k., du gehst da rein, wenn die Glocke geht, du hältst die Doppeldeckung hoch, du lässt deinen Gegner erstmal ein bisschen kommen, soll er sich ausboxen, um dann so langsam reinzugehen. Es war wirklich so: Die Glocke ging von der ersten Boxrunde, und alles, was man sich vorher gedacht hat an Dingen, ist dann auf einmal…."
Markschläger setzt nach, schlägt immer wilder, trifft seinen Gegner mit ein paar Haken und Jabs. Aber nicht so hart und präzise, dass Schulz angezählt werden muss. Außerdem schlägt Schulz auch zurück. Das Ganze sieht jetzt aus wie eine wüste Keilerei auf dem Schulhof. Beide Schachboxer schlagen selten sauber. Die gewaltigen Schwinger, zu denen Markschläger jedes Mal weit ausholt, gehen, je länger die Auseinandersetzung dauert, immer öfter ins Leere. Der Schwung wirbelt ihn dabei fast um die eigene Achse, wie einen Eistänzer, der gerade zu einer Pirouette ansetzt. Luftlöcher zu schlagen, ist für Boxer ziemlich frustrierend. Und es kostet enorm viel Kraft. Dann ist die Runde vorbei. Während die Sekundanten den Boxern die Handschuhe ausziehen und die schweißnassen Körper mit Handtüchern abtrocknen, werden Schachtisch und Hocker wieder in den Ring gestellt. Abgeschottet unter den imposanten Kopfhörern tauchen die Kontrahenten unmittelbar nach der hitzigen Ringschlacht wieder ab in eine ganz andere Welt.

Und dann das K.O. - im Schach

Auch die zweite Schachrunde ist zunächst ausgeglichen. Keiner der Beiden hat sich in der immer stickiger werdenden Luft im Platoon bisher einen entscheidenden Vorteil herausarbeiten können. Doch kurz vor Schluss dieser Runde baut Markschläger plötzlich eine starke Mattdrohung auf.
- "Sven ist wieder in Führung gegangen, mit einer Figur."
- "O.k., jetzt ist Schach. Jetzt muss Raphael reagieren, entweder mit dem König wegziehen oder irgendwas dazwischen spielen."
"Zehn Sekunden noch in dieser Runde! Er steht im Schach! Er muss das Schach erstmal verhindern!!"
Zur dritten Boxrunde kann Sven Markschläger nicht mehr antreten. Er ist in seiner Ecke zusammengesackt: "Ich bin persönlich sehr hitzeempfindlich. Mir persönlich ist lieber fünf Grad minus als 35 Grad plus. "Ich habe das schon gemerkt. Es war eine Kombination aus allem: Die Aufgeregtheit, das Adrenalin, natürlich extrem gepusht. Wenn ich mir jetzt die beiden Boxrunden anschaue, die ich da gemacht habe. In der ersten Boxrunde hab ich fuffzig Mal geschlagen oder so was, irgend sowas Verrücktes. Und das kommt dann natürlich alles zusammen."
Wie ein riesiger, müde gewordener Maikäfer liegt Sven Markschläger regungslos im Ring auf dem Rücken. Jesus, sein kubanischer Trainer, hält die Beine des kollabierten Athleten, der im Schach (!) k.o. gegangen ist, senkrecht nach oben, schnürt die wadenhohen Boxerstiefel auf, um für zusätzliche Entlastung zu sorgen. Ein Arzt mit einem knallroten Notfallkoffer, der die Szene genau beobachtet hat, klettert blitzschnell in den Ring.
"Und dann habe ich mich hingesetzt, beim Schachspielen. Bei der dritten Schachrunde und habe es dann schon gemerkt, während ich saß: Es wird langsam warm um die Füße rum, und es zieht nach oben. Und dann beim Wiederaufstehen war es wirklich so. Von rechts und links zieht´s schwarz zu. Und dann kannste auch nichts mehr machen. Dann hast Du einfach keine Kontrolle mehr über deinen Körper."
"O.k. Es ist alles gut für alle Schachboxfreunde hier. Sven ist o.k….Es ist lediglich der Kreislauf gerade…Ihr braucht Euch keine Sorgen machen….. O.k., Sven ist wieder da. O.k., Sven ist da. Der Sieger durch technischen K.o. nach der fünften Schachrunde….Rafael Schulz!!"

Strikte Schutzregeln

"Unsere Regeln sind auch noch mal etwas strikter als z.B. die Profiboxregeln. Wir schützen in erster Linie den Kämpfer. Wir zählen auch bei den Profikämpfen im Stehen an, nach ´nem Wirkungstreffer."
Iepe Rubingh gefällt es nicht, dass der Schwergewichtskampf bei den Meisterschaften seines Chess Boxing Clubs so zu Ende geht. Das wird wieder für Gerede sorgen.
"Also, wir schützen extrem die Sportler. Das machen so die Trainer selber, der Schiedsrichter, und der Ringarzt ist auch noch da. Solange diese Gegebenheiten offiziell in dieser Form begleitet werden, halte ich das für eine absolut tolle Sportart, die wir auch brauchen."
Der 40jährige Holländer, der mit seiner Chess Boxing Global Marketing GmbH gerade daran arbeitet, Enki Bilals Vision vom Schachboxen auf der ganzen Welt bekannt zu machen, kann schlechte Schlagzeilen überhaupt nicht gebrauchen. Iepe Rubingh kennt die Diskussionen um die Gefahren des Boxsports, die nach so einem Abend schnell wieder aufflammen können. Er geht offensiv damit um.
"Boxen bringt gewisse Risiken halt auch mit sich. Wir brauchen das Risiko. Ich gehe auch ein Mal im Jahr Bergsteigen. Ich muss ein Mal über 4000 Meter und da läuft man über einen Höhengrat und rechts und links…weiß man, wenn man ein Mal runterfällt, dann…. Menschen brauchen das. Das Leben, unsere moderne Gesellschaft hat genau das - sozusagen - kastriert. Und das ist auch im Gegenzug das, was wir auch ausleben müssen. Sei es im Sport oder in anderen Bereichen. Und ich halte das für gesund auch für eine Gesellschaft für notwendig und gesund."

Dem Publikum hat der Abend gefallen

Der Kampfabend in der Kunsthalle Platoon in Prenzlauer Berg ist vorbei. Langsam leert sich die Arena. Beim Rausgehen diskutieren die Leute über das unspektakuläre Ende der spektakulären Schachboxveranstaltung. Das Publikum hat sich gut amüsiert. Es wird viel gelacht über einen gelungenen Abend.
Aber hat Schachboxen wirklich das Zeug zum Massensport? Zurzeit gibt es Athleten in Indien, China, Iran, Italien, Russland, England und in den USA, demnächst wohl auch in Afghanistan. In Deutschland ist die Szene selbst nach zehn Jahren noch ziemlich überschaubar. Außer in Berlin wird der Sport in größerem Rahmen noch im Münchner Boxwerk angeboten. Dazu kommen noch ein paar versprengte Einzelkämpfer, die in reinen Boxclubs trainieren. Trotzdem könnte Schachboxen so etwas wie eine sportliche Antwort auf eine komplizierter werdende Welt sein, in der jeder Einzelne immer mehr verschiedene Aufgaben zu schultern hat.

Ein neuer Sport für eine Welt im Wandel

Die Synthese aus den Königsdisziplinen des Denkens und des Kämpfens, die Kombination der Einzelsportarten Schach und Boxen zu einer neuen Sportart: Vielleicht ist das ein Beleg dafür, wie sich unser Leben verändert. Eine Welt, die immer komplexere Anforderungen stellt, braucht vielleicht auch einen neuen Sport.
"Die Sportart Schachboxen bringt beiden Seiten was", sagt Iepe Rubingh. "Dem Schachspieler das Gefühl: Hey, ich kann auch körperlich, wenn´s sein muss..."
So ähnlich sieht es auch Sven Markschläger, der am Platoon-Kampfabend K.o.-gegangene Schachboxer, beim ersten Training danach. Es beginnt in einer kleinen Boxhalle in Berlin-Mitte mit der ausführlichen Analyse einer Schachpartie. Dazu wird diese an einem großen gelb-schwarzen Schachbrett nachgespielt, auf dem die mit Magneten versehenen Spielfiguren hin- und hergeschoben werden.
"...und dem Boxer: Ich kann auch drüber nachdenken, was ich tue. Ich gehe nicht blind in irgendeine Aggression, in irgendeinen Kampf rein. Also dieses Image, was in beiden Fällen sehr extrem ist, so ein bisschen zu nivellieren, in die Mitte. Genau das, was heute gefragt ist. Auf der einen Seite will man sich durchsetzen können und auf der anderen Seite soll man möglichst gescheit in der Lage sein, sein Umfeld und sich selbst zu reflektieren."

Der Athlet der Zukunft

Beim Training in der neonhellen Halle sind die Schachboxer von der rund einstündigen Spielanalyse zum Kampftraining übergegangen. Zwölf Männer sind an diesem Abend gekommen: Architekten, Anwälte, Journalisten, Philosophen, Schriftsteller und ein Feuerwehrmann. Nach einem intensiven Aufwärmprogramm steht ein knochenhartes Zirkeltraining an Maisbirnen und Sandsäcken, die an Ketten von der Hallendecke herabhängen, auf dem Programm. Nach zweiminütigen Intervallen wird ans nächste Gerät gewechselt.
Wird derjenige, der die Herausforderungen im Ring und am Schachbrett am besten meistert, ein neuer Superheld des Sports sein? Ein neuer "King of the World", wie David Remnick vor 50 Jahren den jungen Boxweltmeister Muhammad Ali nannte. Wäre der King unserer Tage, die leibhaftige Einlösung von Enki Bilals Comic-Fantasie, vielleicht eine Mischung aus dem smarten Schachweltmeister Magnus Carlsen und einer unkontrollierbaren, testosterongesättigten Kampfmaschine á la Mike Tyson?
Schachboxpromoter Iepe Rubingh glaubt fest an seine Vision: "Der berühmteste Boxer war Muhammad Ali. Und das nicht, weil er sein Mundwerk nicht aufgekriegt hat. Der Mann war besonders kreativ und intelligent." Er ist überzeugt, dass diese Mischung zündet.
Der Weltmeister Muhammad Ali posiert stolz am 4. Juni 1979 in der Berliner Deutschlandhalle.
Harte Fäuste, poetischer Kern: Der Weltmeister Muhammad Ali posiert stolz am 4. Juni 1979 in der Berliner Deutschlandhalle.© picture-alliance/ dpa
"Wir haben natürlich auch die Chance, jetzt durch das Schachboxen also Sportler in Szene zu setzen, die das genau auch haben. Die auch genau diese Intelligenz verkörpern wie auch die körperliche Gewalt und die Verbindung und noch das Stück Beherrschung, was du dafür brauchst. Wenn sie dann noch eloquent sind wie Muhammad Ali, ich glaube, dann haben wir den ultimativen Sportler aufgebaut. Wenn diese konträren Fähigkeiten vorhanden sind und ausgebildet werden. Ich glaube, dass das die Menschheit sehr fasziniert. Ich meine, Muhammad war ein Poet."

Erschöpfte Boxer im Neonlicht

Das Training im Boxkeller geht zu Ende. Bleich und elend sehen die Männer, die ihre Arme kaum noch hochkriegen, im harten Neonlicht aus. Die Erschöpfung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Das schweißnasse Haar klebt in Strähnen im Gesicht, klatschnass hängen die Hemden an den abgekämpften Körpern. Die meisten Sportler, die an diesem Abend zwei Stunden trainiert haben, sind über vierzig Jahre alt. Ist das für eine junge Sportart im Aufbruch nicht deutlich zu alt?
Iepe Rubing weiß, dass er bei der Entwicklung von Chessboxing zu einer attraktiven globalen Sportmarke mit fünfzigjährigen Quereinsteigern nicht weit kommt: "Jugendarbeit ist für jede Sportart essentiell. Und natürlich Talententwicklung."
Deswegen war er gerade bei den indischen Meisterschaften in Kalkutta. In Indien gibt es weltweit die meisten Kämpfer. Von 150 Meisterschafts-Teilnehmern waren dort 80 unter 18 Jahre alt. Zusammen mit seinen indischen Partnern will Iepe Rubingh jetzt auch in Deutschland eine gezielte Jugendförderung aufbauen:
"Es hat einen Heidenspaß gemacht, mit den Kids zu trainieren. Weil sie lernen einfach wahnsinnig schnell. Die verinnerlichen das auch noch mal ganz anders. Für Inder und Asiaten ist sowieso Geist und Körper ein Thema, was ganz einfach zu absolvieren ist.
Und dann sind sie so jung. Für die ist ganz klar: Für die ist Schachboxen viel besser als Boxen. Das ist viel besser als Schach.
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