Schade, Ihr Quertreiber!
Herr Sarrazin, Frau Steinbach. Liegen die beiden mit allem, was sie denken und sagen, falsch? Sind die beiden geborene Fettnäpfchen-Wanderer? Nein!
Aber jetzt: Auf der Suche nach Genen, die für Taten, Einstellungen oder Mentalitäten zuständig sein sollen, hat sich Sarrazin selbst aus dem Kreis der diskursanregenden Provokateure geschossen. Wissenschaftler sollten flugs mal nachsehen, inwieweit in Sarrazin Gene wirken, die das Geschwafel über das Wirken von Genen verursachen.
Und Steinbach hat sich mit der plumpen persönlichen Beleidigung, wonach Menschen, die auf ihre freundlichen Briefe nicht antworten, einen "schlechten Charakter" hätten, selbst politisch geköpft.
Quertreiben will also erlernt sein. Der gesellschaftliche Nutzen des Quertreibens darf nicht durch Überspannung des Bogens wieder zunichte gemacht werden. Geschieht dies, kommt es zur Selbstversenkung. Eine solche ist aber kein Grund für Häme, Schadenfreude oder falschen Beifall. Sie ist eher Anlass fürs Bedauern einer verpassten Chance.
In einem von Denk- und Aussprechtabus gezeichneten Gemeinwesen sind befähigte Mundaufmacher eine Spezies, die gepäppelt werden sollte. Nicht wegducken, nicht wegzucken, sondern benennen, was bearbeitet werden muss. So sollte es sein. Wenn man dazu schon Querköpfe braucht – nun denn.
Inzwischen ist die Konsensgesellschaft auf dem Weg zur zwanghaft agierenden Konfliktausblendungsgesellschaft. Das Ende der Reise wäre dann die Derealisierungsgesellschaft: Das ist jene, die Spannungen nicht etwa verdrängt, sondern einfach entwirklicht.
Das darf kein Ziel sein in einer Demokratie, die doch das Mundöffnen zu Meinungsäußerungszwecken ausdrücklich mit einem Rechtsanspruch versieht. Wenn alle sprechen wie Regierungssprecher, erinnert das an eine Versammlung von Geckos in Schreckstarre.
Und – genau so scheintot klingen häufig die deutschen Debatten im Flatterecho zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Alle Angriffspunkte zu vermeiden, alle schmerzende Klarheit zu scheuen, Wahrheit zu überkleistern, ist: grauenhaft. Schlimmer kann es dem freien Wort in der freien Gesellschaft nicht gehen.
Nun erntet man den produktiven Querkopf nur im gedeihlichen Klima. Wenn die partei- oder verbandspolitische Sanktionskeule zu früh schwingt oder zu tief, wachsen sie nicht hoch. Was sie aber sollten. Denn Anpassungsleistungen hin zum Stromlinienkopf werden in Politik und Wirtschaft viel zu oft durchgesetzt. Das Ergebnis ist Durchschnitt und eben keinesfalls Exzellenz.
Also: Mehr Quertreiber, bitte. Nicht unbedingt Sarrazin oder Steinbach. Aber Quertreiber als solche. Wir benötigen dringlich die Kultur der nonkonformen Bewertung. Wir brauchen die unangenehme Meinung, das verstörend Andere, das nichtdressierte Mundwerk, den freien – was immer auch heißt: mitunter nervtötend freien – Geist.
Der ging uns auch bei Christoph Schlingensief, der geht uns auch bei Heiner Geißler oder Henryk M. Broder – mit Verlaub – auf den Keks. Aber: Er ist das Würzmittel im Streit um den richtigen Weg, Kernstück von Mut und Freiheit im demokratischen Prozess.
Nehmen wir zum Schluss jemanden zu Hilfe, der gerne provoziert hat. Der aber das Wesentliche, sozusagen die Quintessenz des Quertreibens, mit einem zu investierenden Feingefühl, mit einer kontextuellen, einer umfassenden Verantwortung verbunden hat. Sagen wir es mit Jean Cocteau: "Takt besteht darin zu wissen, wie weit man zu weit gehen darf."
Paul-Hermann Gruner, geboren 1959, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Seit Beginn der achtziger Jahre tätig als bildender Künstler mit den Schwerpunkten Montage, Installation und Performance. Seit 1996 in der Redaktion des "Darmstaedter Echo", daneben Veröffentlichungen in regionalen und überregionalen Zeitungen, satirische Texte, Buchpublikationen unter anderem zu Sprachpolitik und Zeitgeistkritik.
Und Steinbach hat sich mit der plumpen persönlichen Beleidigung, wonach Menschen, die auf ihre freundlichen Briefe nicht antworten, einen "schlechten Charakter" hätten, selbst politisch geköpft.
Quertreiben will also erlernt sein. Der gesellschaftliche Nutzen des Quertreibens darf nicht durch Überspannung des Bogens wieder zunichte gemacht werden. Geschieht dies, kommt es zur Selbstversenkung. Eine solche ist aber kein Grund für Häme, Schadenfreude oder falschen Beifall. Sie ist eher Anlass fürs Bedauern einer verpassten Chance.
In einem von Denk- und Aussprechtabus gezeichneten Gemeinwesen sind befähigte Mundaufmacher eine Spezies, die gepäppelt werden sollte. Nicht wegducken, nicht wegzucken, sondern benennen, was bearbeitet werden muss. So sollte es sein. Wenn man dazu schon Querköpfe braucht – nun denn.
Inzwischen ist die Konsensgesellschaft auf dem Weg zur zwanghaft agierenden Konfliktausblendungsgesellschaft. Das Ende der Reise wäre dann die Derealisierungsgesellschaft: Das ist jene, die Spannungen nicht etwa verdrängt, sondern einfach entwirklicht.
Das darf kein Ziel sein in einer Demokratie, die doch das Mundöffnen zu Meinungsäußerungszwecken ausdrücklich mit einem Rechtsanspruch versieht. Wenn alle sprechen wie Regierungssprecher, erinnert das an eine Versammlung von Geckos in Schreckstarre.
Und – genau so scheintot klingen häufig die deutschen Debatten im Flatterecho zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Alle Angriffspunkte zu vermeiden, alle schmerzende Klarheit zu scheuen, Wahrheit zu überkleistern, ist: grauenhaft. Schlimmer kann es dem freien Wort in der freien Gesellschaft nicht gehen.
Nun erntet man den produktiven Querkopf nur im gedeihlichen Klima. Wenn die partei- oder verbandspolitische Sanktionskeule zu früh schwingt oder zu tief, wachsen sie nicht hoch. Was sie aber sollten. Denn Anpassungsleistungen hin zum Stromlinienkopf werden in Politik und Wirtschaft viel zu oft durchgesetzt. Das Ergebnis ist Durchschnitt und eben keinesfalls Exzellenz.
Also: Mehr Quertreiber, bitte. Nicht unbedingt Sarrazin oder Steinbach. Aber Quertreiber als solche. Wir benötigen dringlich die Kultur der nonkonformen Bewertung. Wir brauchen die unangenehme Meinung, das verstörend Andere, das nichtdressierte Mundwerk, den freien – was immer auch heißt: mitunter nervtötend freien – Geist.
Der ging uns auch bei Christoph Schlingensief, der geht uns auch bei Heiner Geißler oder Henryk M. Broder – mit Verlaub – auf den Keks. Aber: Er ist das Würzmittel im Streit um den richtigen Weg, Kernstück von Mut und Freiheit im demokratischen Prozess.
Nehmen wir zum Schluss jemanden zu Hilfe, der gerne provoziert hat. Der aber das Wesentliche, sozusagen die Quintessenz des Quertreibens, mit einem zu investierenden Feingefühl, mit einer kontextuellen, einer umfassenden Verantwortung verbunden hat. Sagen wir es mit Jean Cocteau: "Takt besteht darin zu wissen, wie weit man zu weit gehen darf."
Paul-Hermann Gruner, geboren 1959, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Seit Beginn der achtziger Jahre tätig als bildender Künstler mit den Schwerpunkten Montage, Installation und Performance. Seit 1996 in der Redaktion des "Darmstaedter Echo", daneben Veröffentlichungen in regionalen und überregionalen Zeitungen, satirische Texte, Buchpublikationen unter anderem zu Sprachpolitik und Zeitgeistkritik.

Paul-Hermann Gruner© privat