Robert Pfaller: "Zwei Enthüllungen über die Scham"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022
140 Seiten, 20 Euro
Gefühlspolitik der Gegenwart
Die Scham ist ein Gefühl, das unwillkürlich über einen kommt, meint der Philosoph Robert Pfaller. © Getty Images
Schamlose Scham
32:41 Minuten
Scham ist ein unangenehmes Gefühl. Heute wird es aber immer öfter mit Stolz ausgestellt. Wir leben in einer Pseudo-Schamkultur, diagnostiziert der Philosoph Robert Pfaller. Was sagt das über unsere Gegenwartsgesellschaft?
Der laute Furz im Restaurant, der offene Hosenschlitz auf der Bühne, der zu feuchte Kuss zur Begrüßung – solche Missgeschicke treiben einem die Schamesröte ins Gesicht, man möchte am liebsten im Erdboden verschwinden. Möchten wir einander dieses furchtbar unangenehme Schamgefühl ersparen, tun wir deshalb so, als wäre nichts geschehen.
Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass in unserer Gesellschaft heute so etwas wie Stolz zur Scham aufkommt. Aus freien Stücken wird etwa über die eigene "Flugscham" oder "Fleischscham" gesprochen, diese regelrecht zur Schau gestellt. Und anstatt uns die Scham gegenseitig zu nehmen, wird heute gerne beschämt: Die Person mit dem verfehlten Spruch, dem obszönen Werk oder dem unpassenden Look wird digital angeprangert, öffentlicher Verachtung preisgegeben.
Scham als Zeichen der Überlegenheit
Wie diese Kultivierung von Schambekenntnissen und -aufforderungen erklären? „Wir leben in einer Pseudo-Schamgesellschaft“, meint der Philosoph Robert Pfaller. Er bezeichnet die neue Kultur der Beschämung ihrerseits als „völlig schamlos“.
„Heute ist die Scham eine Maske eines verhohlenen oder sogar leicht unverhohlenen Stolzes oder eines Gefühls der Überlegenheit über andere. Man schämt sich vor allem gern für andere bzw. anstelle anderer durch das sogenannte Fremdschämen. Die anderen sind peinlich, und man selbst ist stolz darauf, dass man so fein empfinden kann und so sensible Gefühle für die Peinlichkeit der anderen besitzt.“
Wenn Scham zum Distinktionsmerkmal wird, handelt es sich dann überhaupt um echte Schamgefühle? Zum großen Teil nicht, meint Pfaller, denn: „Man kann Scham nicht absichtlich betreiben.“ Die Scham sei vielmehr ein Gefühl, das unwillkürlich über einen komme. Es habe deshalb auch keinen Sinn, andere aufzufordern, sich zu schämen.
Scham als Ausdruck sozialer Angst
„Das, was wir heute erleben, ist eigentlich nicht Scham, sondern viel eher, das was zum Beispiel Sigmund Freud als soziale Angst bezeichnet. Wenn Leute jemanden an den Pranger stellen, zum Beispiel einen Konzern, weil der die Umwelt verpestet, dann hat niemand vom Konzern Schamgefühle. Aber natürlich haben die Verantwortlichen große Angst, dass ihnen Kunden entgehen, wenn die von dieser Anprangerung erfahren. Und das ist etwas, was man der Scham fälschlich zugeschrieben hat, dass sie so außengesteuert wäre.“
Weshalb Schamgefühle weniger als oftmals behauptet vom Blick der anderen abhängen, entwickelt der österreichische Philosoph in seinem jüngsten Buch „Zwei Enthüllungen über die Scham“. Darin entwirft er zum einen eine psychoanalytisch inspirierte Theorie der Scham. Unsere Schamgefühle, führt er im Gespräch aus, hingen stark von einer verinnerlichten Instanz ab, die über die eigene Einhaltung sozialer Konventionen wacht; nicht so sehr dagegen vom strafenden Blick der anderen beim Übertreten einer Norm.
Die beschämte Linke
Zum anderen untersucht Pfaller das Verhältnis unserer Gegenwartsgesellschaft zu Schamgefühlen. Er geht dabei auch auf die Beobachtung ein, dass insbesondere das linke Spektrum der Gesellschaft zu gegenseitigen Beschuldigungen und Beschämungen neige.
Erklären ließe sich das unter anderem mit der Beobachtung des Soziologen Oliver Nachtwey, dass wir in einer Abstiegsgesellschaft lebten und positive Zukunftsperspektiven weitgehend verloren haben. Große Teile der Gesellschaft hätten Angst, sich das Wohnen, das Einkaufen, das Heizen bald nicht mehr leisten zu können. Selbst die oberen Mittelschichten bangten um die Zukunft ihrer Kinder. Das habe einen „Kurssturz der Idealbildungen“ zur Folge – wir könnten uns heute kaum noch als diejenigen vorstellen, die wir sein wollen.
Wer ist das noch minorisiertere Wesen?
„Und das spielt in der Linken leider eine ganz besonders schwierige Rolle. Weil die anderen nicht mehr wahrgenommen werden als das, wofür sie kämpfen, macht man es sich einfach und glaubt, die politische Position festmachen zu können an dem, was sie angeblich sind: an der ethnischen, sexuellen usw. Identität. Das ist, glaube ich, der größte Fehler, den die Linke zurzeit macht, weil es sie völlig entsolidarisiert.
Dann gibt es einen Opferwettbewerb darum, wer das noch minorisiertere Wesen ist, wer die noch speziellere sexuelle Orientierung hat, wer noch kränkbarer ist und ausgeschlossener. Das sind völlig fruchtlose Kämpfe. Ich glaube, die Linke wird erst dann wieder zu einer Macht in der Gesellschaft werden, wenn man einsieht, dass das, was uns gegenseitig solidarisiert, der Umstand ist, dass wir für dieselben Interessen kämpfen.“