Schatten im Paradies
In "San Miguel" geht es um drei Frauen aus drei Generationen auf einer Insel. T. C. Boyle hat den Stoff, den die Frauenfiguren der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts erleiden, modern interpretiert - sein aufregender Roman ist ein Meisterwerk.
Gerade mal eineinhalb Jahre ist es her, dass T. C. Boyle in "Wenn das Schlachten vorbei ist" vom Krieg rivalisierender Umweltorganisationen um eine Inselgruppe vor der Küste Kaliforniens erzählt hat, da liegt schon der neue Boyle auf Deutsch vor, hervorragend übersetzt übrigens. Er fokussiert auf die kleinste dieser Inseln, reicht gleichsam die Vorgeschichte zum letzten Roman nach. Der präsentierte noch einen versierten Autor auf dem Weg zur Reife eines Klassikers. Mit "San Miguel" ist T. C. Boyle angekommen.
Drei Frauen, drei Generationen, eine Insel. Es sind jeweils die Männer, die es auf das karge Eiland zieht. Wie unterm Brennglas konzentriert Boyle die Motive des amerikanischen Siedlermythos.
Weiter westwärts geht es nicht. Die Paradiesmetapher durchwirkt den Text. Ist man angekommen, warten Entbehrungen, schlechtes Wetter und der Gestank der Schafe, in jeder Generation von neuem.
Boyle erzählt aus der Perspektive der Frauen. Marantha, die immer wieder Blutstürze hat, erhofft Mitte des 19. Jahrhunderts vom Inselleben eine Linderung ihrer Leiden. Will, ihr zunehmend verschlossener Mann, zwingt später, zweite Generation, Maranthas Adoptivtochter Edith, mit ihm auf der Insel zu leben – ein Dasein, "als wäre ihr Leben ein Spiel, das sie schon verloren hatte".
Elsie Lester schließlich kommt um 1920 nach "San Miguel" und meint, mit ihrem Herbie im Garten Eden angelangt zu sein. Aber es gibt Schatten im Paradies. Und die werden immer länger. Auch das gilt für jede Generation.
Grund für das Elend sind weniger die Einsamkeit und die Härte der Natur als die versehrten Seelen der Männer. Beide sind Kriegsveteranen (aus dem Bürgerkrieg der eine, aus dem Weltkrieg der andere), beide waren verwundet.
Durch Herbies Körper wandert ein Bombensplitter, der ihn in Schüben malträtiert - körperliches Pendant zu den verdrängten Kriegstraumata, die bei beiden die Ursache einer zunehmend zerstörerischen Unberechenbarkeit zu sein scheinen.
T. C. Boyle hat einst über die Romankunst des 19. Jahrhunderts promoviert. In "San Miguel" geht eine lang gehegte Saat üppig auf. Es ist, als lese man eines der großen Werke des englischsprachigen Kanons, die im Text regelmäßig vorkommen. Boyle hat den Stoff, den die Frauenfiguren der Brontë-Schwestern, eines Byron, Shelley, Hardy oder Theodore Dreiser erleiden, psychologisch modern interpretiert, auf drei Schicksale verteilt und auf der kleinen Insel motivisch verdichtet.
Zur Lektüre von Emily Brontës Klassiker "Sturmhöhe", den sie alle lesen, denkt Edith: "Eigentlich hasste sie es inzwischen", denn: "Es war eine Sache, in einer Wohnung in San Francisco auf dem Sofa zu sitzen und sich die Szenerie eines Buches vorzustellen, aber eine ganz andere, sie bei jedem Blick durchs Fenster vor sich zu sehen." Einen derart geschmeidigen, bruchlosen, literarisch aufregenden Übergang von der Fiktion in die Wirklichkeit und wieder zurück sowie vom klassischen Vorbild in eine zeitgenössische Literatur mit historischem Stoff bekommen nur wenige Schriftsteller hin. Ein Meisterwerk.
Besprochen von Hans von Trotha
Drei Frauen, drei Generationen, eine Insel. Es sind jeweils die Männer, die es auf das karge Eiland zieht. Wie unterm Brennglas konzentriert Boyle die Motive des amerikanischen Siedlermythos.
Weiter westwärts geht es nicht. Die Paradiesmetapher durchwirkt den Text. Ist man angekommen, warten Entbehrungen, schlechtes Wetter und der Gestank der Schafe, in jeder Generation von neuem.
Boyle erzählt aus der Perspektive der Frauen. Marantha, die immer wieder Blutstürze hat, erhofft Mitte des 19. Jahrhunderts vom Inselleben eine Linderung ihrer Leiden. Will, ihr zunehmend verschlossener Mann, zwingt später, zweite Generation, Maranthas Adoptivtochter Edith, mit ihm auf der Insel zu leben – ein Dasein, "als wäre ihr Leben ein Spiel, das sie schon verloren hatte".
Elsie Lester schließlich kommt um 1920 nach "San Miguel" und meint, mit ihrem Herbie im Garten Eden angelangt zu sein. Aber es gibt Schatten im Paradies. Und die werden immer länger. Auch das gilt für jede Generation.
Grund für das Elend sind weniger die Einsamkeit und die Härte der Natur als die versehrten Seelen der Männer. Beide sind Kriegsveteranen (aus dem Bürgerkrieg der eine, aus dem Weltkrieg der andere), beide waren verwundet.
Durch Herbies Körper wandert ein Bombensplitter, der ihn in Schüben malträtiert - körperliches Pendant zu den verdrängten Kriegstraumata, die bei beiden die Ursache einer zunehmend zerstörerischen Unberechenbarkeit zu sein scheinen.
T. C. Boyle hat einst über die Romankunst des 19. Jahrhunderts promoviert. In "San Miguel" geht eine lang gehegte Saat üppig auf. Es ist, als lese man eines der großen Werke des englischsprachigen Kanons, die im Text regelmäßig vorkommen. Boyle hat den Stoff, den die Frauenfiguren der Brontë-Schwestern, eines Byron, Shelley, Hardy oder Theodore Dreiser erleiden, psychologisch modern interpretiert, auf drei Schicksale verteilt und auf der kleinen Insel motivisch verdichtet.
Zur Lektüre von Emily Brontës Klassiker "Sturmhöhe", den sie alle lesen, denkt Edith: "Eigentlich hasste sie es inzwischen", denn: "Es war eine Sache, in einer Wohnung in San Francisco auf dem Sofa zu sitzen und sich die Szenerie eines Buches vorzustellen, aber eine ganz andere, sie bei jedem Blick durchs Fenster vor sich zu sehen." Einen derart geschmeidigen, bruchlosen, literarisch aufregenden Übergang von der Fiktion in die Wirklichkeit und wieder zurück sowie vom klassischen Vorbild in eine zeitgenössische Literatur mit historischem Stoff bekommen nur wenige Schriftsteller hin. Ein Meisterwerk.
Besprochen von Hans von Trotha
T. C. Boyle: San Miguel
Hanser Verlag München 2013
448 Seiten, 22,90 Euro
Hanser Verlag München 2013
448 Seiten, 22,90 Euro