Schattenseiten einer Gefeierten
Die Erziehungskritikerin Alice Miller wurde mit ihren Büchern über die Dramen der Kindheit weltberühmt. Dem eigenen Sohn gegenüber war sie jedoch eine abweisende Mutter. Martin Miller führt dies auf ihr Holocaust-Trauma zurück - doch statt mit ihr abzurechnen, erzählt er ihr Leben nun als erhellende und berührende Tragödie.
Anfang der 1980er-Jahre wühlten ihre Bücher eine ganze Generation auf: "Das Drama des begabten Kindes”, "Am Anfang war Erziehung”, "Du sollst nicht merken”. Kinder, so die Botschaft von Alice Miller, werden von ihren Eltern benutzt, drangsaliert, misshandelt. Psychotherapie kann eine Hilfe sein, um in Auseinandersetzung mit den Schmerzen der Kindheit sein "wahres Selbst” zu finden. Als Miller 1994 ihr erstes Buch "Das Drama des begabten Kindes” mit einer neuen Einleitung versah, konnte man spüren, dass etwas an der Art ihrer Botschaft nicht stimmte. Sie schrieb missionarisch, ihre Sprache wurde gewaltsam, und sie stellte die Kindheit schlechthin als "grausames Gefängnis” dar. Sie teilte die Welt in schwarz und weiß und verbannte den Zweifel.
Wenn wir jetzt das Buch von Martin Miller lesen, verstehen wir, warum sie es tat. Seine Mutter sperrte ihr eigenes Leid in ihrer Seele ein und verbarg zeitlebens ihre jüdische Herkunft. Als Alicija Englard wurde sie 1923 im polnischen Piotrków in einer orthodoxen jüdischen Familie geboren. 1939 kam sie mit der Familie in ein Getto. Alicija konnte sich, ihre Mutter und ihre Schwester retten. Der Vater starb im Getto, die Großeltern wurden vergast. Alicija überlebte Krieg und NS-Herrschaft mit falschen Papieren in Warschau, immer in Angst vor einem Erpresser. "Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben”, schreibt der Sohn. An diese Erfahrung wollte sie nie erinnert werden. Zu Hause wurde nie darüber gesprochen. Der Sohn erfuhr ihre Geschichte erst, als er nach dem Tod seiner Mutter bei überlebenden Verwandten recherchierte.
Aber er erfuhr die Nachwirkungen am eigenen Leib: Alice Miller gab ihn in seinen ersten sechs Lebensmonaten weg. Mit sechs Jahren kam er für zwei Jahre in ein Heim. Der Vater, mit der Mutter nach dem Krieg aus Polen in die Schweiz gekommen, war gewalttätig. Die Mutter schützte ihr Kind nicht. Als Martin erwachsen war, meldete sie ihn ohne sein Wissen zu einer Therapie an und verfolgte ihn in Briefen mit Vorwürfen, wie gestört er sei. Martin Miller druckt diese Briefe ab. Heute vermutet er, dass seine Mutter deswegen so hasserfüllt auf ihn losging, als er sich von ihr nicht "retten lassen” wollte, weil sie ihren Vater vor dem Tod im Getto nicht hatte retten können. Als die Mutter alt war, wurde sie von Schuldgefühlen geplagt. Aber sie und ihr Sohn fanden nicht mehr zueinander.
Das gelingt Martin Miller erst nach ihrem Tod mit diesem Buch. Er erzählt die Geschichte seiner Mutter als Tragödie, ohne mit ihr abzurechnen und ohne sie zu glorifizieren. Und er bewahrt die Wertschätzung für ihr Werk. So hat er ein berührendes und erhellendes Buch geschrieben, voller Verständnis für zwei verwundete Seelen: ihre und seine.
Besprochen von Ulfried Geuter
Wenn wir jetzt das Buch von Martin Miller lesen, verstehen wir, warum sie es tat. Seine Mutter sperrte ihr eigenes Leid in ihrer Seele ein und verbarg zeitlebens ihre jüdische Herkunft. Als Alicija Englard wurde sie 1923 im polnischen Piotrków in einer orthodoxen jüdischen Familie geboren. 1939 kam sie mit der Familie in ein Getto. Alicija konnte sich, ihre Mutter und ihre Schwester retten. Der Vater starb im Getto, die Großeltern wurden vergast. Alicija überlebte Krieg und NS-Herrschaft mit falschen Papieren in Warschau, immer in Angst vor einem Erpresser. "Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben”, schreibt der Sohn. An diese Erfahrung wollte sie nie erinnert werden. Zu Hause wurde nie darüber gesprochen. Der Sohn erfuhr ihre Geschichte erst, als er nach dem Tod seiner Mutter bei überlebenden Verwandten recherchierte.
Aber er erfuhr die Nachwirkungen am eigenen Leib: Alice Miller gab ihn in seinen ersten sechs Lebensmonaten weg. Mit sechs Jahren kam er für zwei Jahre in ein Heim. Der Vater, mit der Mutter nach dem Krieg aus Polen in die Schweiz gekommen, war gewalttätig. Die Mutter schützte ihr Kind nicht. Als Martin erwachsen war, meldete sie ihn ohne sein Wissen zu einer Therapie an und verfolgte ihn in Briefen mit Vorwürfen, wie gestört er sei. Martin Miller druckt diese Briefe ab. Heute vermutet er, dass seine Mutter deswegen so hasserfüllt auf ihn losging, als er sich von ihr nicht "retten lassen” wollte, weil sie ihren Vater vor dem Tod im Getto nicht hatte retten können. Als die Mutter alt war, wurde sie von Schuldgefühlen geplagt. Aber sie und ihr Sohn fanden nicht mehr zueinander.
Das gelingt Martin Miller erst nach ihrem Tod mit diesem Buch. Er erzählt die Geschichte seiner Mutter als Tragödie, ohne mit ihr abzurechnen und ohne sie zu glorifizieren. Und er bewahrt die Wertschätzung für ihr Werk. So hat er ein berührendes und erhellendes Buch geschrieben, voller Verständnis für zwei verwundete Seelen: ihre und seine.
Besprochen von Ulfried Geuter
Martin Miller: Das wahre "Drama des begabten Kindes". Die Tragödie Alice Millers
Kreuz Verlag, Freiburg 2013
176 Seiten, 17,99 Euro
Kreuz Verlag, Freiburg 2013
176 Seiten, 17,99 Euro