Sprecherinnen und Sprecher: Bettina Kurth, Inka Löwendorf, Rosario Bona
Ton: Ralf Perz
Regie: Frank Merfort
Redaktion: Martin Hartwig
Der Blick aus dem All auf die Erde – und was er auslöst
30:21 Minuten
Der Blick aus dem All auf die Erde hat der Menschheit irdische Einsichten geschenkt. Zumindest erzählen Astronauten davon: Sie überfluten spirituelle Gefühle, die zu ökologisch-ganzheitlichem Denken führen. Oder ist das esoterischer Weltraumkitsch? (Erstsendung am 25.10.21)
Der Physiker Reinhard Furrer, 1985 zusammen mit Ernst Messerschmid einer der ersten Deutschen im All, nahm zu seiner damaligen Spacelab-Mission ein Diktiergerät mit, um seine unmittelbaren Beobachtungen, Empfindungen und Gedanken zu protokollieren: "Das Blau ist das Mittelmeer. Wir sind darüber hinweg. Wir sind gar nicht mehr da!"
Furrer, der zehn Jahre nach dieser Aufnahme bei einem Flugzeugabsturz starb, hinterließ ein rares Dokument, das sein unmittelbares Erlebnis akustisch fixiert – so wie dies ein Foto optisch tut. Damit speicherte er jenen Eindruck, der bislang weniger als 600 Menschen vergönnt gewesen ist. In Zukunft soll er allerdings durch kommerziellen Raumtourismus weitaus mehr Leuten zugänglich gemacht werden: der Blick aus dem Weltall auf die Erde – die Gottesposition quasi.
Doch wo ist Gott?
Doch wo ist Gott?
Oben am Himmel, im All, jedenfalls nicht, sagt der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Christoph Markschies in seiner Eigenschaft als Kirchenhistoriker und Theologe. "Den Himmel haben wir nicht durch Erforschung des Himmels verloren, sondern den Himmel haben wir dadurch verloren, dass die meisten Menschen keinen Gott mehr als – Dietrich Bonhoeffer hat es einmal so schön gesagt – Lückenbüßer brauchen. Es gibt kein Loch mehr, was nicht erklärt ist im Leben. Wenn es ihnen schlecht geht, gehen sie zum Arzt und nicht zum Priester."
Die Erforschung des Weltalls
Das 20. Jahrhundert hatte noch viele Löcher, das schwärzeste davon: der Kosmos. Ihn galt es, wenn nicht zu erobern, so doch zumindest zu erforschen.
Am 24. Oktober 1946 stieg eine erbeutete deutschen V2-Rakete in den Himmel über den US-Staat New Mexico und stürzte nach drei Minuten zurück auf die Erde. Dort zerschellte sie. Das war geplant, denn es ging nicht um den Flug an sich, sondern um eine runde Stahlkassette. Sie war Teil einer 35mm-Kamera und schützte den Film darin.
"‚Als die Wissenschaftler die Kassette in gutem Zustand vorfanden, waren sie begeistert und hüpften auf und ab wie Kinder.‘ Später, zurück am Startplatz, ‚als sie die Fotos zum ersten Mal auf die Leinwand projizierten, drehten die Wissenschaftler völlig durch.‘" So zitiert das amerikanische "Air & Space Magazine" einen Zeitzeugen, der den Film zu bergen half.
Die Kindergeburtstagsstimmung der Beteiligten hatte gute Gründe: Etwas war zum ersten Mal geglückt. Clyde T. Holliday, Ingenieur an der Johns Hopkins Universität, hatte die Idee, dass man mit rund 100 erbeuteten deutschen V2-Raketen Forschung betreiben könne. Vor allem: die Erde von oben fotografieren.
Die Filmkamera schoss alle anderthalb Sekunden ein Bild und erwischte in einem bestimmten Winkel auch die gekrümmte Erde. Das Foto war grobkörnig, schwarz-weiß, unscharf und damit kaum geeignet, zur kulturellen Ikone zu werden. Aber aus einer Höhe von ungefähr 104 Kilometern war es das erste Bild von der Erde aus dem All.
Weitere Foto- und Filmmissionen mit V2-Raketen folgten, und im Oktober 1950 resümierte Initiator Clyde T. Holliday in einem Artikel des "National Geographic Magazine": "Die Ergebnisse dieser Tests verweisen auf eine Zeit, in der Kameras an Lenkraketen montiert werden könnten, um feindliches Gebiet im Krieg auszukundschaften, im Frieden unzugängliche Regionen der Erde zu kartieren und sogar Wolkenformationen, Sturmfronten und die Bewölkung über einem ganzen Kontinent zu fotografieren, was für Wettervorhersagen von großem Nutzen wäre. All dies ist natürlich noch Zukunftsmusik."
Was ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat
"Das Erste, wovon ich weiß, war vom Lunar Orbiter. also eine unbemannte Sonde, die vom Mond aus die Erde fotografiert hat", sagt Hans-Arthur Marsiske. "Das war, glaub ich, 1965 oder 66. Aber das war auch schwarz-weiß und ein bisschen unscharf. Und ich glaub, das Apollo-8-Foto, das war zum einen farbig, richtig auf chemischen Film und superscharf." Der Soziologe beschäftigt sich seit Jahrzehnten publizistisch mit der Raumfahrt und ihren Sonderbarkeiten, und mit dem Apollo-8-Foto. "Das hat dokumentiert, was ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat. Ich glaube, das machte den Unterschied!"
"And from the crew of Apollo 8 we call for good night, good luck, a Merry Christmas and God bless all of you– all of you on the good earth!" Weihnachtsgrüße am Heiligen Abend 1968, aus der Mondumlaufbahn gesendet von Apollo 8. An diesem Heiligen Abend ereignete sich – 22 Jahre nach dem V2-Moment – etwas unser Weltbild Umstürzendes. Nein, halt! Nicht umstürzend, sondern es endgültig bestätigend.
Astronaut William Anders, der eigentlich die Mondoberfläche fotografieren sollte, zeigte sich nach einer Drehung des Raumschiffs vom Anblick der fernen Erde so beeindruckt, dass er einen Farbfilm in seine Kamera einlegte und ein Jahrhundertfoto schoss.
"Rising Earth" – aufgehende Erde. Jeder kennt das Bild. Im Vordergrund zeigt es die kraterübersäte Mondoberfläche, während sich vor dem tiefen Schwarz des Weltalls im Hintergrund die Erdkugel abzeichnet. Es sieht so aus, als ginge sie gerade am Horizont auf. Natürlich kennt auch Hans-Arthur Masiske das Foto. "Ich denke auch, das ist die größte Errungenschaft von Apollo, von den ganzen Mondmissionen, ist das Bild der Erde, was die Astronauten mitgebracht haben. Das hat enorm viel verändert." Womit er sofort Widerspruch provoziert. Etwa vom deutschen Philosophen und Zivilisationskritiker Günther Anders.
"Heute, zwei Monate nach dem Ereignis, ist bereits eine neue amerikanische Briefmarke im Handel, die den über der Mondlandschaft aufgehenden Erdglobus zeigt, während im Himmel die großen Worte der Schöpfungsgeschichte erscheinen: In the beginning God…", notierte er in einem zeitgenössischen Kommentar und fuhr sarkastisch fort: "Die Schöpfungsgeschichte und die Mondumkreisung sind in einem einzigen Bilde zusammengefasst, das nun täglich in Millionen von Exemplaren verkauft wird, damit es von hinten geleckt und von vorne gestempelt werde. Jedes einzelne Exemplar ist sechs Cents wert. Mehr als Gott, die Schöpfung und den Mondflug kann man zu diesem Preis wirklich nicht verlangen."
Raumfahrt und Religion
Was der Philosoph freilich nicht wusste: Ursprünglich hatte der noch provokativere Satz "Und Gott sah, dass es gut war" auf dem Briefmarkenentwurf gestanden, war aber aus Angst vor religiösem Protest nichtchristlicher Gruppen wieder entfernt worden. Davon bekam freilich ein evangelikaler Radioprediger Wind und entfachte einen Sturm von Protestschreiben ans Weiße Haus, um die vermeintliche Zensur zu unterbinden. Im Ergebnis kehrten Bibelworte auf die Marke zurück, allerdings unverbindlichere: "In the beginning God…"
Unversehens war das erste Farbfoto von der Erde in einen religiösen Kontext geraten. Um das All zu erobern, musste man den biblischen Kanon respektieren. So wie Apollo-8-Astronaut William Anderson am Heiligabend 1968 nicht nur ein Foto schoss, sondern im Raumschiff für die Daheimgebliebenen aus der Genesis vorlas. Das sollte beruhigend wirken – doch auf der Erde hatte sich etwas verändert.
Nämlich die Sicht auf den Himmel, die allerdings noch nie klar gewesen ist. "Wir haben in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften einen antiken Text studiert, da hat jemand die Welt als Koffer dargestellt, also den Himmel als Kofferdeckel", erzählt Theologe Christoph Markschies. Da haben jahrzehntelang die Leute gesagt: Ach, das ist so ein ganz einfacher Mensch, der hat die Bibel wörtlich genommen, wahrscheinlich ein antiker Fundamentalist!" Doch wenn man den griechischen Text genauer angucke, "dann steht da eine griechische Partikel, den müssen Sie mit als ob oder wie übersetzten: Der Himmel ist wie …Natürlich ist der Mensch nicht der Auffassung, dass der ein Kofferdeckel ist, sondern der will eben darauf aufmerksam machen, das es so aussieht, als ob da ein großer Deckel auf einer Dose drauf ist."
Wir kommen auf dieses "Als ob" noch zurück. Zunächst müssen wir zwei Perspektiven unterscheiden. Zum einen das, was die Astronauten mit eigenen Augen sehen. Etwas anderes ist die Alltagsoptik unseres blauen Planeten hier auf der Erde, vermittelt durch Fotografien.
Das Bild der "Blue Marble" wird zum Weltpopkultureerbe
Längst haben wir uns daran gewöhnt, den Planeten in ganzer Kugelgestalt wahrzunehmen. Wie weit muss man eigentlich dafür reisen? "Bis zum Mond muss man wohl nicht fliegen", mutmaßt Hans-Arthur Marsiske. "Ich denk mal, wo die geostationären Satelliten sind, in 36.000 Kilometer Höhe, das würde wahrscheinlich schon reichen. Apollo hat dann tatsächlich die Erdumlaufbahn verlassen." So auch die 17. Mission, gestartet am 7. Dezember 1972.
"Die drei Astronauten realisierten auf ihrem Flug zum Mond aus einer Entfernung von ca. 45.000 Kilometern die epochemachende Momentaufnahme des vollständig beleuchteten Erdplaneten – etwa fünf Stunden nach dem Aufbruch ins All, den Blick zur Erde zurückgewandt, durch ein Fenster des Raumschiffes hindurch, die Sonne als unüberbietbare Lichtquelle geradlinig im Rücken."
"Obschon bereits von den vorhergehenden Mondflügen und Satelliten im Erdorbit verschiedene Weltraumfotografien der Erde in unterschiedlichen Kommunikationskontexten zirkulierten, avancierte dieses Bild, weltweit bekannt als ‚Blue Marble‘, zum Bild der Erde schlechthin und wurde zu einer ‚veritablen Ikone des 20. Jahrhunderts‘. Mehr noch: ‚Blue Marble‘ steht in dem Ruf, das am häufigsten reproduzierte Bild aller Zeiten zu sein", schreibt Sebastian Hoggenmüller 2016 in seinem Aufsatz "Die Welt im (Außen-)Blick".
Dass das Bild quasi zum Weltpopkuluturerbe gehört hat Folgen, meint Hans-Arthur Marsiske. "Für die, die unvorbereitet waren, muss das erschütternd gewesen sein. Aber heute haben wir eben dieses Bild Zigtausendmal gesehen! Jetzt fliegt man hin, und dann, kann ich mir vorstellen, ist die Erfahrung: Das sieht ja tatsächlich so aus! Das wird immer noch beeindruckend sein. Genau wie man auf einen Berg steigt. Es ist ein toller Blick auf die Landschaft. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich diese Erfahrung multiplizieren lässt, also dass man sagt: Wir ermögliche jetzt den Flug in die Umlaufbahn, und dann werden wir zu besseren Menschen. Das halte ich für gewagt."
Was interessieren mich die Probleme der Erde?
"Hat sich Ihre Überzeugung dort geändert? Ihre Einstellung zu bestimmten Sachen? Einfach aus der Distanz heraus?" Schülerfrage 1987 an Reinhard Furrer. Antwort des Astronauten: "Mich hat während des Raumfluges auf so einer Pressekonferenz ein Journalist gefragt, ob ich denn die Probleme der Erde anders sehen würde? Und da hab ich spontan geantwortet: Das interessiert mich überhaupt nicht, im Augenblick! Ich bin eine Woche oben und sehe das erste Mal das Weltall! Was interessieren mich die Probleme der Erde?"
Eine bemerkenswerte Antwort. Heute würde kein Raumreisender mehr so etwas zu sagen wagen. Denn das Überwältigungsgefühl mit ethischer Selbstverpflichtung ist vom singulären Ereignis einiger weniger zum kulturellen Klischee geworden: Die Erde von außen zu sehen, sollte Raumfahrer erstens anrühren und zweitens nachdenklich machen. Dabei konnten die allermeisten Astronauten beiderlei Geschlechts bislang durchaus nicht sehen, was die Apollo-Crews sahen, nämlich die ganze Kugel.
Kein Messias der Raumfahrt
Trotzdem haben auch die anderen Nachdenkliches zu berichten, weiß Hans-Arthur Marsiske. "Die Erdkrümmung nimmt man wohl schon wahr – und man nimmt wahr, wie dünn die Atmosphäre ist. Das haben ja auch viele Astronauten gesagt. Das ist sicherlich auch eine Wahrnehmung, die erschütternd ist – das glaub ich schon –, wie dünn die Atmosphäre ist! Es ist wirklich von oben gesehen eine ganz zarte Schicht, von der wir leben, von der wir abhängig sind.
"Ein steter Strom von Weltführern sollten in den Orbit gehen. Es würde tiefgreifende Wirkung auf ihre Weisheit haben", so zitiert der amerikanische Publizist und Raumfahrtenthusiast Frank White den US-Astronauten Joseph P. Allen in seinem Buch "Der Overview Effekt". White begann in den 1980er-Jahren, Astronauten über ihre Erfahrungen beim Anblick der Erde zu interviewen und tut das bis heute. Sein Projekt ist dabei keine wissenschaftliche Langzeitbeobachtung, sondern wird von einer quasi missionarischen Grundüberzeugung getragen. "Die Astronauten kehren zur Erde zurück und berichten von ihren Erfahrungen. Dann fliegen sie wieder in den Weltraum und machen dort den Overview Effekt zu einer Dauereinrichtung. Auf diese Weise verbreiten sich dessen Auswirkungen und schaffen damit den gemeinsamen Kontext, der die Grundlage einer neuen Philosophie und Psychologie für eine neue Zivilisation liefert."
Wortkarg im Weltall
Nach White benötigt man gar nicht das visuelle Erlebnis der ganzen Erdkugel, der läuternde Overview Effekt tritt schon mit Verlassen der Erdatmosphäre ein. Seltsam allerdings, dass aus den rund 600 Raumreisenden weder ein neuer Messias noch auch nur eine politische Visionärin vom Format einer Greta Thunberg hervorgegangen wäre. Und seltsam, dass die unmittelbaren Erdanblickserlebnisse der frühen Jahre sich durch Wortkargheit auszeichnen, so etwa John Glenns Live-Kommentar bei seiner Erdumrundung 1962: "Oh, that view is tremendous!"
In dieser Phase der Weltraumfahrt flogen nur eiskalte Militärpiloten ins All und beschränken ihre Begeisterung auf eine Handvoll trivialer Adjektive. Ein Mangel, der Mondfahrer Michael Collins auffiel: "Die beste Crew für die Apollo-Mission wäre ein Philosoph, ein Priester und ein Dichter. Leider würden sie bei dem Versuch, das Raumschiff zu fliegen, umkommen."
Was aber könnte ein Priester besser ausdrücken? Christoph Markschies, selbst Theologe, drückt es so aus: "Ich hoffe, dass ein Priester aufgrund der langen Tradition des Christentums oder auch des Judentums Formeln hat, rituelle Formeln, um Überwältigung auszudrücken! Der ist also insofern ein Experte für Überwältigung, als er weiß, was man dann sagen kann. Aber das ist ja auch nichts anderes, als zunächst stottern und dann hinterher Erklärungen suchen. Es ist ein Ritual dessen, was man da sagt."
"Das Erste, was ich von der Erde sehe, ist San Francisco Bay, rot, Wolken." Auch Reinhard Furrer sprudelte 1985 nicht vor Mitteilsamkeit, trotz seines expliziten Vorsatzes, den Moment festzuhalten. Etwas anderes allerdings berichtete er später immer wieder. Eine visuelle Sinneserfahrung, die allein Raumreisenden vorbehalten ist – und nicht uns Fotogesättigten auf der Erde. "Nehmen wir mal an, Sie gehen in die Sahara, da haben Sie aber schon einmal ein Bild davon gesehen! Sie haben es selber nicht erlebt, aber Sie können sich vorstellen, wie es aussieht, halbwegs wenigstens", sagt er. "Die Astronauten sind ins Weltall gegangen und haben auch Bilder gehabt, von der Erde, wie die Erde aussieht. Es gibt aber eine Sache, auf die uns niemand vorbereitet hat: Sie können vom Weltall keine Bilder mitbringen! Denn Sie können ein Bild immer nur davon machen, wo Licht auffällt. Also können Sie immer nur die Erde fotografieren! Und jetzt kommen Sie oben an, und dann schauen Sie aus dem Fenster und sehen das Weltall. Und keiner hat Sie darauf vorbereitet, wie die Schwärze aussieht!"
Ergriffenheit und Wandlungserlebnisse
Dieses Erlebnis nennt die amerikanische Ethnologin Deana L. Weibel in einem Aufsatz von 2020 den "Ultraview Effekt". "Ein Begriff, um die Erfahrung des Blicks auf die Milchstraße zu bezeichnen", schreibt sie. "Er kann zu starken Überzeugungen bezüglich der Existenz von Leben im Universum oder sogar zu unorthodoxen Ansichten über die Ursprünge der Menschheit führen."
So auch bei Reinhard Furrer. "Sie sehen, wenn Sie aber aus dem Fenster irgendwo rausgucken, wo immer es gerade ist, einen Planeten, ein ganz großes, wunderbares, schönes, rundes Gestirn. Sie wissen, dass das die Erde ist. In so einer Situation, wenn Sie einer fragt: Glauben Sie denn, dass dieser Planet, so schön der aussieht, das ist der einzige? Sie würden die Frage noch nicht mal verstehen. Dann Sie wenden sich um, und dann ist das Weltall voll! Milliarden von solchen Planeten! Sie kommen gar nicht auf die Idee, wie einer so einer so einen komischen Gedanken haben könnte, dass das der einzige ist."
Genau wie Frank White sammelt Deana L. Weibel Aussagen wie die Furrers von 1987, analysiert diese allerdings mit sozialpsychologischer Expertise. Was Ergriffenheit und Wandlungserlebnisse angeht, kommt sie dabei zu einem wenig verblüffenden Ergebnis. Christoph Markschies ahnt es: "Es ist ja nicht so, dass man da rausfährt und sagt: Ich hab bisher noch nie über Gott nachgedacht, das ist hier aber schön, jetzt glaub ich mal doch an ihn!"
Spiritualität, Religiosität und kosmischer Kitsch
Der Grad der im All erlebten Spiritualität und Religiosität steht im Zusammenhang mit eingeübten irdischen Praktiken. Wer bereits religiös ist, glaubt danach tiefer; wer nicht, fühlt humanistisch-ethische Verpflichtungen gegenüber Menschheit und Natur allerdings deutlicher als zuvor. Konversionen sind selten und können dann in beide Richtungen verlaufen.
Ausgerechnet Earthrise-Fotograf William Anders wurde nach dem kosmischen Erlebnis zum Atheisten. "Es hat meine religiösen Überzeugungen wirklich untergraben. Die Vorstellung, dass sich alles um den Papst dreht und dort oben ein großer Supercomputer existiert, der sich fragt, ob Billy gestern ein guter Junge war? Das ergibt alles keinen Sinn."
Vielleicht fällt die Erwartung eines innerlich reinigenden, spirituellen Erlebnisses auch eher in die Kategorie "kosmologischer Kitsch", die freilich gut ins Konzept eines künftigen Weltraumtourismus passen würde. Denn Kitsch gehört zu Vergnügungsreisen, man denke nur an Souvenirs und Ansichtskarten.
Tausende Fotos von der Erde
Schwach fällt das Bedürfnis nach dem gottesgleichen Blick von oben allerdings nicht aus, wie ein Paper von US-Psychologen aus dem Jahr 2016 belegt: "Für Astronauten ist der Blick auf die Erde so wertvoll, dass die Mitglieder der Skylab IV-Mission, denen dies verwehrt wurde, daraufhin die Arbeit verweigerten."
Liegt das an der Ergriffenheit? Oder steckt dahinter der nachvollziehbare Wunsch, etwas sich ständig Bewegendes wie die Erde, das immer neue Ansichten präsentiert, nicht aus dem Blick zu verlieren? So wie man am Meer sitzt und stundenlang das Spiel von Wolken und Wellen verfolgt.
Im Gegensatz zum Meerbetrachter wollen Astronauten diese Veränderungen allerdings festhalten. "Während der ersten acht Expeditionen auf der ISS wurden fast 200.000 Fotos gemacht, von denen 84,5 Prozent von der Besatzung initiiert wurden."
"I have been photographed to death", ich bin zu Tode fotografiert worden, hat einst Marlene Dietrich gesagt – und wäre die Erde ein Lebewesen, würde sie das auch irgendwann sagen können. Aber sie ist ja kein Lebewesen.
Das ist allerdings nicht unumstritten und Hans-Arthur Marsiske rät: "Wir müssen auch tatsächlich über die Gaia-Hypothese weiter nachdenken, ob wir nicht Planeten insgesamt als Lebewesen wahrnehmen sollten und entsprechend respektvoll behandeln. Und da sehe ich den Aufbruch ins All als eine ganz große Chance, dieses Verhältnis zu anderen Lebewesen, zu anderen Lebensformen, zum Leben insgesamt – oder auch unser Verhältnis untereinander – sehr, sehr grundlegend neu zu denken."
Die Erde als Lebewesen
Kehren wir zurück zum "als ob". "Wenn ich von Gaia als einem Superorganismus spreche, habe ich keinen Augenblick einer Göttin oder irgendeines denkbegabten Wesens im Sinn. Ich kleide meine Eingebung in Worte, dass die Erde sich wie ein selbstregulierendes System verhält", schreibt James Lovelock. Man kann die Erde so betrachten, als ob sie ein Lebewesen wäre.
"Gaia wurde sichtbar aufgrund unseres neuen Betrachterstandpunkts im Weltraum und aufgrund intensiver Erforschung der Erdoberfläche, der Meere und der Atmosphäre. Die Gaia-Sicht bedient sich gewiss poetischer Metaphorik, aber sie ist auch eine harte, wissenschaftliche Theorie unseres Planeten, die aus der neuen Möglichkeit der Vogelperspektive erwachsen ist."
Ein Blickwinkel, den auch Alexander Gerst auf der ISS einnahm. "Man sieht Dinge wie zum Beispiel ein Feuer auf dem Boden. Dann Rodungen vom Regenwald. Heute hab ich Algenteppiche vor der Küste von China gesehen. Von oben sehen Algenteppiche auch sehr schön aus! Aber wenn man sich überlegt, dass es eine Form von Umweltverschmutzung sein kann, dann ist es natürlich wieder nicht so schön."
Die Umweltprobleme des Planeten Erde, die Gerst tatsächlich wahrnehmen konnte, verriet das ikonische Bild der "Blue Marble" 1972 noch nicht. Dennoch führte die massenhafte Verbreitung des Fotos zu einem Wandel in der Beziehungen Mensch-Erde, vermutet – wie viele – Hans-Arthur Marsiske: "Greenpeace hat sich gebildet, ja, der Club of Rome hat 'Die Grenzen des Wachstums' veröffentlicht, alles Anfang der 70er-Jahre. Man kann das nicht nachweisen, dass es irgendwie Ursache oder Wirkung ist, aber es ist sicherlich auch kein Zufall, dass in dieser Zeit all diese Ideen aufgekommen sind. Das ist was, was sehr subtil gewirkt hat. Es hat emotional die Leute angerührt, ihre Heimat so zu sehen, dieses Bild."
Schon vorher, Ende der 1960er-Jahre, entwickelte der britische Chemiker und Biophysiker James Lovelock zusammen mit der Biologin Lynn Margulis eine Hypothese: Man solle die Erde als kybernetisches Gesamtsystem betrachten, in dem alles mit allem zusammenhängt und keine Ursache in einem Bereich wirkungslos für die anderen bleibt.
Gaia verkörpert die mentale Umdeutung des Verhältnisses Mensch-Natur. Ein Kunstgriff, der legitim und nützlich ist – vielleicht aber auch gefährlich, wie in einer Ausdeutung des französischen Philosophen Bruno Latour. Er hält einen Krieg der "erdverbundenen" Gaia-Verteidiger gegen ihre ausbeuterischen Schänder für akzeptabel. Bei Latour drängt die Metapher darauf, blutige Realität zu werden.
Auf Eindringlichkeit und Überwältigung getrimmt
Aber wie wirklichkeitsgetreu und authentisch ist denn eigentlich das in unsere Netzhaut eingebrannte Ur-Bild unseres Planeten von 1972? Der Mediensoziologe Sebastian Hoggenmüller stellte vor ein paar Jahren überrascht fest: "Das auf der NASA-Website offiziell kommunizierte Bild ‚Blue Marble‘ ist selbst eine Modulation der ursprünglich von den Astronauten gemachten Aufnahme."
Im Vergleich der von Hoggenmüller analysierten Originalaufnahmen mit jenen visuellen Memen, die sich jahrzehntelang über die Medien verbreitet haben, fallen drei Aspekte auf. Der Bildausschnitt wurde verändert und das Motiv gedreht – aber vor allem hat man es dramatisiert "Die gräulich rauschende Grobkörnigkeit der analogen Originalfotografie ist bei ‚Blue Marble‘ durch das tiefe Schwarz ersetzt worden."
Das Schwarz der Unendlichkeit, der Undurchdringlichkeit, der Unabbildbarkeit. Man könnte sagen: Von Anbeginn verfolgte die NASA eine Form von Impression Management. Schon die ersten Bilder aus dem All wurden auf Eindringlichkeit und Überwältigung getrimmt. Warum?
Schwer zu sagen. Vielleicht als irdische Annäherung an den Effekt der intensiven Ehrfurcht, von dem viele Astronauten berichten – ob das bei beinahe 600 Weltraumreisenden nun noch authentisch oder schon eine selbsterfüllende Prophezeiung ist? Die Pioniere der neuen kommerziellen Raumfahrt führen jedenfalls ihre Ergriffenheit PR-wirksam vor, ob Elon Musk, Jeff Bezos ….oder Richard Branson.
Uns Bodenpersonal hienieden bleibt der Trost, dass Ergriffenheit auch anders zu haben ist: billiger, mit geringerem Unfallrisiko und in der Wirkung möglicherweise genauso nachhaltig. "Ich hoffe immer, dass ich nicht den Flug in den Himmel brauche", sagt dazu Theologe Markschies. "Ich bin schon völlig überwältigt, wenn ich im Frühjahr die Vögel höre, und weiß, die sind wieder zurück! Also dieser Moment, man steht auf und denkt: Warum bist denn du hier eigentlich so müde, wieder zu spät ins Bett gegangen? Man öffnet die Fenster, atmet diese wunderbare, kühle, frische Luft ein und hört Vögel wunderbar zwitschern. Das ist für mich ein überwältigend schöner und glücklicher Moment! Und einer, in dem ich eben sage: Danke! Ich kann nur Danke sagen dafür, dass beim Aufmachen des Fensters ich nicht in das gähnende Nichts geschaut habe."