Horace Walpole: Das Schloß Otranto. Ein Schauerroman
Klassiker in missglückter Übersetzung
Er begründete eine ganze Gattung: Horace Walpole schrieb vor genau 250 Jahren die erste "gothic story", den ersten Schauerroman der Literaturgeschichte. "Das Schloß Otranto" liegt nun in einer fast parodistisch anmutenden Neuübersetzung vor, die dem Werk nicht gerecht wird.
In diesem Roman ist im Wesentlichen alles angelegt, was spätere Schauer- oder auch Kriminalromane auszeichnet: Wir Leser empfinden und leiden mit den Helden, die selbst empfindsam, aber höchst bedroht sind; verwerfliche und grausame Intriganten und Thronräuber wollen diesen Helden ans Leben und ans rechtmäßige Erbe; sie verkehren in Burgen, Kirchen und ähnlichen alten Gemäuern, die dunkel sind und verwirrend, aber durch unterirdische Gänge verbunden. Charaktere, Handlung und Topografie geben dem Raum und Bild, was in uns handelt und welche unbewussten Impulse unser Handeln antreiben.
Ein ruchloser Plan
Die Geschichte spielt um das Jahr 1200 in Süditalien. Manfred, der Tyrann von Otranto, will seinen Sohn Conrad mit Isabella, der Tochter des Marquis von Vicenza, verheiraten. Er braucht dringend einen männlichen Nachfahren, weil nach einer alten Weissagung sonst sein Geschlecht Schloss und Titel verlieren würde. Aber die Weissagung hat noch einen zweiten ausgesprochen rätselhaften Teil: Das Schloss gehe auch dann unter, wenn der wahre Eigentümer dafür "zu groß" geworden sei. Schon bald ahnt man den Sinn des seltsamen Wortes: Conrad wird nämlich von einem gewaltigen Helm erschlagen, der von der Statue des Alfonso herabfällt. Alfonso war der erste Eigentümer des Schlosses von Otranto, einst umgekommen im Heiligen Land und ohne Nachfahren geblieben. Manfreds Großvater wurde damals, wie er behauptete, Otranto übertragen.
Nach dem Tod des Sohnes hegt Manfred den ruchlosen Plan, seine Frau, der er keine weiteren männlichen Nachfahren mehr zutraut, zu verstoßen und selber Isabella zu heiraten. Diese flieht durch einen Geheimgang. Ihr Helfer ist ein junger Bauer namens Theodore, der erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem im Schloss hängenden Porträt Alfonsos aufweist. Immer weitere Ränke schmiedet Manfred, um seine Macht zu erhalten, immer kommen ihm übernatürliche Erscheinungen dazwischen, und als endlich sogar Isabellas Vater mit großem Gefolge auftaucht, rücken die Auflösung des Geheimnisses und Manfreds Scheitern immer näher.
Gegenstück zu den literarischen Strömungen der Zeit
Horace Walpole stammte aus einer noblen und einflussreichen Familie, sein Vater war Premierminister. Sein Roman ist ein Gegenstück zu den beiden literarischen Strömungen der Zeit: dem realistischen Roman à la Henry Fielding und dem sentimentalen à la Samuel Richardson. Das musste Aufsehen erregen, weshalb er zunächst vorgab, das Buch sei eine Übersetzung aus dem Italienischen. Oder hat er die beiden Strömungen miteinander kombiniert?
Eine neue "Form der Erkenntnis"
Auch durch seine Herkunft fühlte sich Walpole beiden Strömungen zugehörig: einerseits der Stadt und dem gesellschaftlichen Treiben, das heißt dem Wirklichkeitsnahen, andererseits dem Nächtlichen und Einsamen, das heißt dem "Gotischen" und Empfindsamen. Im Vorwort betont er, dass seine Personen auf Übernatürliches wie auf Reales reagieren. Das "Wunderbare" sei bei Walpole eine neue "Form der Erkenntnis", wie Norbert Miller in seinem großartigen Nachwort schreibt.
"Das Schloß Otranto" wurde schon oft übersetzt, erstmals 1768. Nun hat der mehrfach preisgekrönte Hans Wolf diese neue Fassung vorgelegt, freilich in einer fast parodistisch anmutenden, künstlich altfränkischen, manieristischen Art, die dem dichten, aber klaren Englisch Walpoles nie gerecht wird. Vermutlich hat er sein privates Barockwörterbuch geplündert, das er schon vor zwanzig Jahren angelegt hat. Gern mag er einen eigenen Pastiche-Roman schreiben, aber nicht unter dem Namen eines englischen Meisters.
Aus dem Englischen von Hans Wolf
Mit einem Nachwort von Norbert Miller
C.H. Beck, München 2014
182 Seiten, 16,95 Euro