Klassismus als Lebensthema

"Hä, wieso verstehe ich gar nichts?"

09:16 Minuten
Ein illustriertes Selbstbildnis zeigt Eva Müller, die Zeichnerin der Graphic Novel "Scheiblettenkind", als junge Frau mit einer Schlange um den Hals.
Eva Müller hat die autofiktionale Graphic Novel "scheiblettenkind" geschrieben und gezeichnet. Inspiriert wurde sie von französischen Graphic Novels und von Didier Eribon. © Suhrkamp Verlag / Eva Müller
Eva Müller im Gespräch mit Timo Grampes |
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Vom Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie und den Prägungen der bildungsfernen Umgebung erzählt Eva Müller in ihrer Graphic Novel "scheiblettenkind". Die Zeichnerin und Autorin sagt, die Scham habe sie bis in den Marx-Lesekreis an der Uni verfolgt.
Eva Müllers neue Graphic Novel "scheiblettenkind" erzählt vom Aufwachsen in Unbildung und Armut – und von der Abwertung, die damit verbunden ist.
"Scheibletten sind dieser Käse, der in Plastik eingepackt und sehr billig ist. So ein bisschen ein Arme-Leute-Essen!", erklärt die Autorin den Titel des Buches: "Wenn man den Käse auf einen Auflauf tut, ist das etwas anderes als Büffelmozzarella." Das Wort "Scheiblettenkind" sei ein Schimpfwort.
Die Scheibletten sind Teil einer Geschichte, die viel mit Eva Müllers eigener Kindheit zu tun hat. Die Protagonistin ihrer Graphic Novel lebt ein Künstlerinnenleben. Sie ist in einer Arbeiterfamilie groß geworden.

Scham über bildungsferne Herkunft

"Es ist die persönliche Geschichte, aber auch die politische Auseinandersetzung mit Klasse", sagt Müller, die von französischen Graphic Novels über Klassismus und von Didier Eribons Buch "Rückkehr nach Reims" inspiriert wurde.
Ihre Protagonistin habe Abwertung aufgrund der Herkunft erfahren, aber auch Community. Doch "vor allem ist daraus so eine internalisierte Scham entstanden", sagt sie. Das sei ein gesellschaftlich-strukturelles Problem.
Zum Beispiel an der Universität mache sich die Herkunft bemerkbar, wenn man keine Akademikerinnenfamilie hat. Im Marx-Lesekreis habe sie gedacht: "Hä, wieso verstehe ich gar nichts?"

Die Scham schleicht sich ein

Eva Müller meint, es sei schwer auszuhalten, wenn man Scham über die eigene bildungsferne Herkunft empfinde: "Man hat das Gefühl, eine Versagerin zu sein."
Eine wichtige Rolle in ihrer Graphic Novel spielt eine Schlange, ein eher surreales Element: Sie steht für Selbstzweifel und Scham. "Eine Schlange schleicht sich so ein, manchmal bemerkt man sie gar nicht, und trotzdem ist sie gefährlich", sagt Müller, die ihre Herkunft eigentlich mag und doch damit zu kämpfen hat.

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Reine Aufstiegsstorys seien in der Realität selten, "deshalb wollte ich das nicht erzählen". Es hänge sehr viel Zufall und Glück an einem Bildungsaufstieg; von der Kindheit an brauche es Unterstützer wie die Bibliothekarin, die ihr Bücher gab.

Realitätsferne Zuschreibungen

Die aktuelle Debatte um das Bürgergeld hat Eva Müller "unfassbar wütend gemacht". Sie empört sich über "Zuschreibungen, die aus der Politik gemacht werden bezüglich Menschen, die nicht so viel Geld haben".
Als Beispiel nennt sie die Zuschreibung, dass es bei Arbeitslosigkeit um Faulheit gehe, und dass Leute, die wirklich arbeiten wollten, auch arbeiten könnten. "Da geht so viel an Realitäten der Menschen verloren", kritisiert Müller. "Sei es alleinerziehend sein, sei es krank sein, sei es einfach nicht gebildet genug sein aus Gründen, für die man nichts kann."

Eva Müller: "scheiblettenkind"
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2022
283 Seiten, 28 Euro

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