Scheidung und die Folgen

Trauerjahr für Trennungskinder

04:15 Minuten
Eine Familienstatue mit Rissen.
Den Erst-Kindern werden unbewusst die Schmerzen einer zerstörten Ehe aufgebürdet, so Astrid von Friesen. © imago images / Ikon Images
Ein Standpunkt von Astrid von Friesen · 09.07.2020
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Längst sind Patchworkfamilien alltäglich geworden. Wer wollte als Erwachsener eine Ehe aufrechterhalten, wie vor 50 Jahren üblich, nur wegen der Kinder? Doch diese sind immer noch Hauptopfer jeder Trennung, meint die Therapeutin* Astrid von Friesen.
Der Hintergrund des Märchens von "Hänsel und Gretel" war eine Hungersnot. Um sich selbst und den jüngeren Kindern das Überleben zu sichern, wurden die beiden von der eigenen Mutter im tiefen Wald ausgesetzt. In späteren Grimmschen Überlieferungen wurde diese Grausamkeit jedoch einer Stiefmutter unterstellt.
Es ging um die archaische Frage: Überleben meine oder deine Kinder? Wem gilt meine Fürsorge? Welchen Preis müssen Hänsel und Gretel zahlen?
Auf der emotionalen Ebene geschieht dies bei uns tausendfach nach elterlichen Trennungen. Da verlässt zum Beispiel eine Mutter ihre Kinder, zieht ins Ausland und bricht den Kontakt ab. Da gründet ein Vater eine neue Familie, doch die beiden Söhne müssen wegen des Unterhalts sogar gegen ihn klagen und werden im selben Dorf zu Weihnachten jeweils nur kurz zum Kaffeetrinken eingeladen.

Wenn Eltern ihre Kinder auslöschen

Ein extremes Beispiel: Eine Frau verlässt Mann und zwei Söhne. Sie antwortet niemals auf deren Briefe und schließt die Fensterläden, wenn die beiden 13- und 12-Jährigen – wie in jedem Jahr – mit Blümchen sehnsuchtsvoll ihr nur an der Tür gratulieren wollen. Der Älteste heißt Christian, den nachgeborenen Sohn in der neuen Ehe hat sie Christoph genannt.
All dies können wir als Löschungen bezeichnen, als Entwertungen, als Missachtungen. Diese Kinder fallen doppelt aus den Beziehungen heraus: real und ebenso schmerzhaft aus der symbolischen Ordnung der Geschwisterkonstellationen. Sie werden zu Menschen zweiter Klasse degradiert, obwohl gerade Fairness der Eltern als essenziell erlebt wird, egal ob es Halb-, Stief-, Adoptiv-, Parttime- oder sonstige Patchwork-Konstellationen sind.
Warum ist dies ein Thema für das "Politische Feuilleton"?
Weil wir keine fundierten Diskussionen über dieses Tabu führen, welchen Preis alle Kinder - besonders die älteren - nach Scheidungen zahlen müssen.

Das neue Glück hat Priorität

Im Gegensatz zu den vergangenen Jahrzehnten verlaufen Scheidungen heute zwar kinderfreundlicher und respektvoller. Doch stellen manche ihr Recht auf neues Glück vor ihre Verantwortung, die sie bei der Zeugung und Geburt übernommen haben.
Sie projizieren ihre Wut auf sich selbst wegen der gescheiterten Beziehung und auf ihre Partnerinnen stellvertretend auf die eigenen Kinder und entsorgen aggressiv diese Altlasten.
Es kann natürlich auch anders herum sein, dass die Kinder vom anwesenden Elternteil manipuliert werden, beziehungsweise, dass sie sich aus Überlebensnot mit diesem identifizieren, um irgendwo dazuzugehören in dieser multilokalen Lebenssituation.
Ihnen wird auch selten ein "Trauerjahr" eingeräumt, in dem sie um die zerstörte Ordnung trauern und sich neu sortieren dürfen. Denn nicht selten erscheinen nach wenigen Wochen oder Monaten neue Lover, neue Geliebte.

Verlustgefühle mit lebensbestimmenden Folgen

Den Erst-Kindern werden unbewusst die Schmerzen einer zerstörten Ehe aufgebürdet, sie saugen die abgespaltenen Verlustgefühle auf und verarbeiten sie zu Depressionen, zu selbstverletzendem Verhalten oder Schulversagen, mit Aggressivität oder Regelbrüchen oftmals mit lebensbestimmenden Folgen. In der stillen Hoffnung, dass äußere Autoritäten ihre innere Not wahrnehmen und benennen.
Sie tragen ihre Wut am Zerbrechen der Ehen seltener gegen die Eltern, massiv oftmals gegen die Stiefeltern, sich selbst oder Außenstehende aus, auch stellvertretend gegen unsere Gesellschaft.
Denn die tiefe Kränkung, sich als Mensch zweiter Klasse zu fühlen, abserviert worden zu sein, wird generiert, projiziert und nicht selten ausagiert: wo und gegen wen auch immer!

Astrid von Friesen ist Diplompädagogin, Gestalt-, Trauma- und Paartherapeutin und Publizistin in Dresden, ehemalige Dozentin an der TU Freiberg, Lehrerfortbildnerin sowie Supervisorin.



Astrid von Friesen
© dpa / picture alliance / Matthias Hiekel
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine inhaltliche Korrektur vorgenommen.
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