Mikrokosmos des Nahostkonflikts
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Erst im Mai dieses Jahres ist das Ostjerusalemer Viertel Scheikh Jarrah einer der Auslöser gewesen für die heftigsten Gewaltausbrüche im Nahen Osten seit Jahren. Warum ist dieses eineinhalb Quadratkilometer kleine Stadtviertel so brisant?
"Das ist das 'Boash', das Stinktier-Wasser, das wird in letzter Zeit oft verwendet. Wir stehen hier am Park an der Hauptstraße Scheikh Jarrahs. Der ganze Park, die Straße, die Häuser, die Autos um uns herum werden damit immer wieder besprüht."
Der Gestank, süßlich-faul, ist das erste, was man hier wahrnimmt. Er begleitet einen bei jedem Atemzug, noch lange, nachdem man Scheikh Jarrah verlassen hat. Eyal Raz, ein jüdisch-israelischer Aktivist, führt mich durch den kleinen Jerusalemer Bezirk. Der kleine Mittvierziger wird von allen arabischen Anwohnern herzlich begrüßt. Seit 2009 nimmt er an Demonstrationen hier teil. An den Gestank hat er sich bis heute nicht gewöhnt.
"Wir sind auf der Straße, die das Viertel Scheikh Jarrah in zwei Hälften teilt. Die drohende Zwangsräumung nach dem israelischen Gesetz gilt für beide Teile, so wie auch für Häuser in anderen arabischen Bezirken Jerusalems."
Wie an jedem Freitag startet ein Demonstrationszug im kleinen Park im Zentrum des Viertels und durchquert es. Außer den Anwohnern Scheikh Jarrahs nehmen sowohl israelische und palästinensische als auch internationale Aktivisten teil. Sie fordern ein Ende der Zwangsräumungen von Wohnungen arabischer Anwohner. Ab und zu kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Jerusalemer Polizei.
Was macht aber Scheikh Jarrah zu einem Symbol des israelisch-palästinensischen Konflikts, weltbekannt, mehr als jeder andere Ort in diesem Land?
Bis 1948 wohnten hier ärmere Juden
Scheikh Jarrah liegt im Herzen Jerusalems, zwischen der Altstadt im Süden und der Hebräischen Universität auf dem Mount Skopus im Norden, zwischen dem jüdischen Westjerusalem und dem palästinensischen Ostjerusalem. Bis zum Krieg 1948, nach dem die Stadt geteilt wurde, war der Bezirk überwiegend von ärmeren Juden bewohnt. Sie nannten ihn "Shimon HaTzadik", nach Simeon, einem hohen Priester des Tempels, der hier begraben wurde.
"Ich wurde 1942 dort geboren. Im Januar 1948, ich war fünfeinhalb Jahre alt, wurden wir von dort evakuiert. Wir sind zu Flüchtlingen geworden. Wir hatten ein Haus dort, mit drei Stockwerken und zwei Läden", sagt Michael Ben Yair.
Ich treffe ihn in einer geräumigen Wohnung mitten in einem vornehmen Stadtteil Tel Avivs. Sein Körper ist vom Alter gezeichnet, seine Worte sind leise, aber gestochen scharf.
"Nach einem Monat bekamen wir zwei verlassene palästinensische Wohnungen und einen Laden in Scheikh Bader, einem palästinensischen Bezirk in Westjerusalem. Die Palästinenser, die aus Westjerusalem nach Osten geflohen sind, bekamen verlassenes jüdisches Eigentum. So blieb es bis heute, 73 Jahre lang."
Die Geschichte von Michael Ben Yair ist hier noch nicht zu Ende. Aber wie brisant sie tatsächlich weitergeht, wird erst klar, wenn man die Geschichte von Scheikh Jarrah hört.
Dann kamen palästinensische Flüchtlinge nach Scheikh Jarrah
Scheikh Jarrah lag nach dem Krieg 1948 in dem von Jordanien kontrollierten Ostteil Jerusalems. Seine jüdischen Anwohner flohen nach Westen, nach Israel. Ihre Häuser wurden von der jordanischen Regierung übernommen und an Palästinenser verpachtet, die aus dem von Israel kontrollierten Westjerusalem und anderen Teilen des Landes geflohen waren. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen baute zusätzliche Häuser für palästinensische Flüchtlinge auf freien Flächen in Scheikh Jarrah. Jüdisches Eigentum, jordanische Souveränität, UNO-Bauten, palästinensische Anwohner. Das war Scheikh Jarrah ab 1948.
In Westjerusalem und allen anderen Teilen des jungen israelischen Staates: ein Spiegelbild. Palästinensische Häuser und Ländereien wurden vom israelischen Staat übernommen und an Juden weitergegeben. Von einem Ausgleich kann aber keine Rede sein: Nur einige hundert Juden ließen ihr Eigentum zurück, dafür verließen durch den Krieg mehr als 700.000 Palästinenser das Gebiet Israels.
"So ein komplizierter Ort!", sagt Mahmoud Saw. "Ich bemitleide den Richter, der sich damit beschäftigen soll. Jordanische Papiere, osmanische Papiere, aber mir ist das egal. Ich bin hier geboren, ich lebe hier, ich will hier weiterleben."
Die Kluft zwischen dem ständigen Lächeln Mahmoud Saws und seiner bewegenden Geschichte ist groß. Der fünfzigjährige palästinensische Taxifahrer arbeitet im Westen der Stadt, spricht ein hervorragendes Hebräisch. An seinem Haus bröckelt der Putz, die drei kleinen Zimmer sind niedrig, die Wände dünn.
"Mein Name ist Chadsch Mahmoud Saw. Meine Mutter wohnte unweit der Klagemauer, 1948 flüchtete sie vor dem Krieg hierher. Sie pachtete es von den Jordaniern für einen Dinar im Jahr. Und nun? Meine Mutter war ein Flüchtling. Sollen wir es auch werden? Das geht nicht."
Scheikh Jarrah und der Sechs-Tage-Krieg
1967, im sogenannten Sechs-Tage-Krieg, eroberte Israel Ostjerusalem – darunter auch Scheikh Jarrah. Kurz darauf wurde ein Gesetz erlassen, wonach alle von Jordanien verwalteten Besitztümer in Ostjerusalem an Israel gingen. Und die palästinensischen Anwohner?
"Wir hatten schon einen Räumungsbefehl, er wurde vorläufig ausgesetzt, wir warten auf die Entscheidung des Gerichts. Es ist kein Leben. Jeden Tag denkst du, gleich kommen sie, um dich und deine Kinder auf die Straße zu werfen. Ich habe vier Kinder, alle unter 16. Wo sollen wir hin?", sagt Hammed Jadt, ein junger Mann mit düsterem Blick.
Die Sonne ist untergegangen, die kühle Jerusalemer Bergluft lockt die Menschen auf die Straße, aus einem Hof drängen Klänge einer Abiturfeier, von Freudenschüssen begleitet. Unter einer Plastikplane sitzen palästinensische Anwohner und diskutieren die letzten Neuigkeiten aus den Gerichtsverhandlungen bezüglich Scheikh Jarrahs. Es ist eine fromme Gegend, die Frauen halten sich aus den Gesprächen heraus. Das ist auch der Grund, weshalb alle meine Gesprächspartner Männer sind.
"Ich bin in diesem Haus geboren, meine Kinder sind hier geboren, und nun behaupten sie, es sei ihr Eigentum. Vor 1948 lebte meine Familie in Haifa, und ich sage, nichts ist einfacher – gebt uns unser Land in Haifa, und wir kehren dorthin zurück."
Nach dem israelischen Gesetz, das nach dem Sechs-Tage-Krieg erlassen wurde, dürfen die Erben des jüdischen Eigentums in Ostjerusalem ihre Besitztümer zurückfordern. Palästinenser aber bekommen ihr Eigentum aus Westjerusalem, das 1948 an Israel ging, nicht zurück. Eine gesetzliche Ungleichheit, meint Aktivist Eyal Raz:
"Diese Ungleichheit wird von Siedlerorganisationen ausgenutzt. Sie finden die Erben und versprechen ihnen, das juristische Prozedere zu übernehmen. Das Ziel ist, die geopolitische Realität in Jerusalem zu ändern. Der Friedensvorschlag Bill Clintons sah vor, dass die jüdischen Bezirke in Jerusalem zu Israel gehören, die palästinensischen Bezirke zur Hauptstadt Palästinas. Scheikh Jarrah liegt im Herzen dieses Vorschlags, ein Steinwurf vom Tempelberg entfernt. Es gibt keine Zweistaatenlösung ohne zwei Hauptstädte in Jerusalem, und es gibt keine zwei Hauptstädte in Jerusalem ohne Scheikh Jarrah als Teil der palästinensischen Hauptstadt."
"Israels Souveränität muss gestärkt werden"
"Ich unternehme als Vizebürgermeister alles Mögliche, um Israels Souveränität in den Gebieten, aus denen Juden vor 1948 geflohen sind, zu stärken. Die Araber, die dort um die Häuser kämpfen, standen fast allein, nun gesellen sich dazu gelangweilte linke Aktivisten, verrückte BDS-Aktivisten, europäische, antisemitische und antizionistische Organisationen."
Der Vizebürgermeister von Jerusalem, Arieh King, sitzt im sechsten Stock des Jerusalemer Rathauses. Seit Jahren gehört King zu den führenden Aktivisten, die Juden in Ostjerusalem ansiedeln wollen. Er achtet darauf, den hebräischen Namen Scheikh Jarrahs zu verwenden – Shimon HaTzadik.
"Shimon HaTzadik ist in aller Munde, nur, weil das oberste Gericht die einzig mögliche Entscheidung nicht treffen will, nämlich, dass das Viertel den Juden gehört, und dass die Araber, falls sie dort wohnen wollen, schön die Miete zahlen müssen. Wollen sie nicht zahlen? Dann sollen sie zum Teufel gejagt werden, genauso wie in Berlin oder Stockholm."
Führende israelische Juristen kritisieren das israelische Gesetz, auf dessen Anwendung Arieh King pocht. Sie berufen sich auf das internationale Gesetz – danach wiegt das Bleiberecht der Anwohner Scheikh Jarrahs, die als Flüchtlinge dort angesiedelt wurden, stärker als jede Eigentumsfrage. King beharrt darauf, dass es sich um eine eigentumsrechtliche Frage handelt. Doch durch seine Worte schimmert ein zusätzliches Argument.
"Wir sollen uns nicht dafür schämen, dass wir Kriege gewinnen, wie 1948 und wieder 1967. Und wegen dieser Juristen – Israel ist ein Rechtsstaat. Wollen sie das Gesetz ändern? Bitte schön, dann sollen sie im Parlament eine Mehrheit dafür organisieren. Übrigens, als frühere linke Regierungen vor 1967 arabische Ländereien an die sozialistischen Kibbutzim abgaben, war das in Ordnung? Mich stößt diese linke Heuchelei ab."
Ist das die Antwort auf die Frage, weshalb der Fall "Scheich Jarrah" so brisant ist? Weil das Viertel direkt an der Grenze liegt, die durch den Krieg 1948 entstand? Willkürlich gezogen, wird sie nun als künftige Grenze der Zweistaatenlösung besprochen. Läge Scheikh Jarrah einige hunderte Meter westlich, hätte man davon nie erfahren. Außerdem droht die Diskussion über Scheikh Jarrach dazu zu führen, dass man auch anderswo in Israel über verlassenes Eigentum redet – darunter auch verlassenes palästinensisches Eigentum, das von Israel übernommen wurde.
Die meisten jüdischen Siedler wollen nicht reden
Die jüdischen Siedler, die in bereits geräumte Häuser gezogen sind, möchten kein Interview geben. Nur einer von ihnen, Elazar, ist bereit, mit mir zu sprechen, doch off the record. Er ist 25, trägt eine große Kippa und einen hellen Bart. Ich treffe ihn am Ausgang des Grabes Simeon des Gerechten, er schiebt einen Kinderwagen. Er sei kein Idealist, sagt er, fügt aber nach einer kleinen Pause hinzu, Zitat: "Jeder Stein, der auf uns fliegt, bringt die Erlösung ein Stück näher."
"Wieso Scheikh Jarrah ein Mikrokosmos des jüdisch-palästinensischen Verhältnisses in Jerusalem ist?", fragt Michael Ben Yair, den ich nochmal aufsuche – er ist der jüdische Flüchtlingsjunge, der mit seiner Familie während des Krieges 1948 aus Scheikh Jarrah nach Westjerusalem evakuiert wurde.
"Dort haben Juden gewohnt, die geflohen sind, und statt ihrer wurden dann Palästinenser angesiedelt, die aus Westjerusalem geflohen waren. Es gibt keine Gerechtigkeit in Zeiten des Krieges. Aber falls versucht wird, eine solche Gerechtigkeit herzustellen, dann sollte man den Ausgang des Krieges akzeptieren, so wie er war."
Michael Ben Yair machte Karriere im Staatsdienst und wurde juristischer Berater der israelischen Regierung unter Yitzhak Rabin in den 1990er-Jahren. Über die gesetzliche Ungleichheit ist er empört. Sein altes Haus in Scheikh Jarrah will er der palästinensischen Familie, die dort wohnt, überlassen – und nicht so handeln wie beispielsweise der jüdische Besitzer gegenüber der palästinensischen Familie Shamasna.
"Bei der Familie Shamasna haben es die Siedler geschafft, den ursprünglichen jüdischen Besitzer zu finden und die Familie rauszuwerfen. Aber dieser jüdische Besitzer war ja wie wir ein Flüchtling. Er verließ sein Haus und hat sicherlich das Haus eines Palästinensers im Westen bekommen. Wie kann es sein, dass er entschädigt wurde und jetzt auch noch das alte Haus bekommt, dieses an Siedler verkauft, die wiederum die Palästinenser, die dort 1948 einzogen, zwangsräumen?! Das ist das Resultat des israelischen Gesetzes, eines Unrechtsgesetzes. Was in Scheikh Jarrah vor sich geht, das kann man nicht mit Eigentumsrecht lösen. Es ist ein politischer, staatlicher Konflikt!"
Hoffen auf weltweite Solidarität
Im kleinen Hof vor Saleh Diabs Haus feiert sein Sohn die eben bestandene Abiturprüfung. Der stolze Vater organisiert die Demonstrationen in Scheikh Jarrah mit.
"Seit 2009 demonstrieren wir. Unsere Stimme wird immer lauter. In der ganzen Welt kennt man uns jetzt, vor allem wegen der Jungs hier."
Saleh ist überzeugt, dass erst diese jüngere Generation durch ihre Präsenz in den sozialen Netzwerken den Namen des Viertels weltweit bekannt machte. Von der palästinensischen, von der israelischen und von der internationalen Politik enttäuscht, setzt sie auf Solidarität durch Bewegungen wie "Black-Lives-Matter".
"Die Israelis haben mit den weltweiten Demonstrationen nicht gerechnet. Was wir vor 15 Jahren nicht schafften, geht jetzt über Tik-Tok und Instagram. Die Jungs filmen jeden hier und laden es hoch, und binnen Sekunden weiß die ganze Welt davon. Zum ersten Mal tragen die Richtigen den Sieg davon. Die ganze Welt ändert sich, nur die israelische Besatzung soll unverändert bleiben?!!"