Scheitern auf Raten

Moderation: Frank Meyer |
Mikrokredite galten lange als Wunderwaffe im Kampf gegen die weltweite Armut. Doch was bringt dieses Instrument wirklich? Nicht viel, sagt der Volkswirtschaftler Philip Mader. Er hat Mikrokredite für seine Dissertation untersucht - und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis.
Frank Meyer: Die Idee der Mikrokredite hat vor einigen Jahren mächtigen Rückenwind bekommen. Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2005 zum "Jahr des Mikrokredits" erklärt, ein Jahr später hat ein Aktivist dieser Kleinst-Kredit-Idee sogar den Friedensnobelpreis bekommen, der Bankgründer Muhammad Yunus aus Bangladesch. Seitdem wurde das System der Mikrofinanzierung auch mächtig ausgebaut. Der deutsche Volkswirtschaftler Philip Mader hat die Folgen der Mikrokredite für seine Dissertation untersucht. Er wird in diesem Monat für diese Studie ausgezeichnet – mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung. Das Fazit von Philip Mader: Das Mikrokredit-Modell ist gescheitert. Guten Tag Herr Mader!

Philip Mader: Guten Tag!

Meyer: Nun waren in unseren Zeitungen in den letzten Jahren viele Geschichten zu lesen, zum Beispiel von der Frau, die sich mit dem Mikrokredit eine Nähmaschine leisten kann und damit eine kleine Werkstatt aufbaut, so ausreichend Geld verdienen kann, um ihre Familie durchzubringen. Sie sagen jetzt: Ja, es gibt solche Fälle, aber die typischen Fälle für Mikrokreditnehmer sind eigentlich ganz andere – nämlich welche?

Mader: Ja, diese Geschichten sind keinesfalls frei erfunden, also bei über 200 Millionen MikrokreditnehmerInnen weltweit wird man schon genug Erfolgsfälle finden, über die man berichten kann. Der Normalfall nach dem Stand der Forschung ist eher, dass sich kein Unterschied abzeichnet im Leben dieser KreditnehmerInnen. Ob es im Endeffekt bedeutet hat, dass gar nichts passiert ist, oder dass es einfach kein messbarer Unterschied war, daran können sich die Geister scheiden. Was in diesen Stories so revolutionär klingt, dass die Frau jetzt nachher eine Nähmaschine hat, wo sie vorher keine hatte, und jetzt Kleider näht und vorher keine genäht hat, das verschleiert natürlich, dass die Frau durchaus auch vorher etwas gemacht hat, sie hat auch durchaus vorher ihre Familie irgendwie durchgebracht, und es verschleiert ebenfalls, dass noch die allerwenigsten Leute in der Welt durch das Nähen von Klamotten von Hand reich geworden sind.

Meyer: Jetzt sagen Sie, es geht den Leuten die Kleinkredite genommen haben, nicht schlechter, auch nicht besser als vorher. Das heißt, es ist gar kein Unterschied zu ihrem Leben vorher?

Mader: Das, was ich feststelle, ist: Sie arbeiten härter als vorher. Das lässt sich rein daran messen, dass zwar kein Unterschied in ihren materiellen Lebensbedingungen feststellbar ist, aber sehr wohl ein Unterschied in den materiellen Lebensbedingungen derer, die ihnen das Geld geliehen haben. Also im Klartext: Die Armen haben – das habe ich in meiner Dissertation ausgerechnet – im Jahr 2010 umgerechnet 19,5 Milliarden Dollar mindestens an die Mikrofinanzindustrie an Zinsen und Gebühren bezahlt. Die müssen dieses Geld erwirtschaftet haben. Danach ist bei denen offensichtlich nicht genug übrig geblieben, dass die Forscher feststellen hätten können, dass es ihnen besser ergangen ist.

Meyer: Was sind Ihre Quellen, auf die Sie sich berufen?

Mader: Ich berufe mich vor allem auf eine globale Datenbank, die heißt MIX Market, die wird von der Weltbank geführt, speziell, um Investoren über die Anlagemöglichkeiten ihres Geldes im Mikrofinanzsektor zu informieren. Zudem habe ich aber auch Feldforschung selber betrieben in Indien, im Bundesstaat Andhra Pradesh. Dort habe ich mir ein Mikrofinanzprojekt für die Bereitstellung von Wasser und Sanitärressourcen angeschaut. Und in Indien ist in diesem Jahr, wo ich dort war, etwas ganz Frappierendes passiert, nämlich, dass die erste wirklich große Mikrofinanzblase geplatzt ist.

Also man hat gesehen: Menschen haben sich dort verschuldet, die hatten teilweise vier, fünf, sechs Kredite pro Haushalt, und irgendwann kam es zu einem Platzen dieser Blase, als sehr viele Menschen gleichzeitig nicht mehr diese Kredite zurückbezahlen konnten. Also das müsste man auch als Quellen für die These, die ich entwickelt habe, anführen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Volkswirtschaftler Philip Mader über das System der Mikrofinanzierung. Ich will noch mal zurückkommen auf diese positiven Berichte über Mikrokredite, ein weiteres Beispiel: Der Botschaft von Ghana in Deutschland, Paul King Aryene, wurde interviewt für eine deutsche Zeitung, und der sagte, Mikrokredite füllen eine Lücke für kleine Unternehmen, die von den normalen Banken keine Kredite bekommen würden, aber die eben über diese Mikrokredite Geld in die Hand bekommen, um weiter wirtschaften zu können. Also in Ghana scheint, nach Ansicht dieses Botschafters, das System zu funktionieren.

Mader: Ja, das Einzige, was der Botschafter gesagt hat in diesem Interview, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, ist, dass die Menschen jetzt Zugang zu Kredit haben. Das ist tatsächlich eine Veränderung, die durch die Mikrokredite stattgefunden hat. Die Leute, die früher nicht in eine Bank laufen konnten, sondern sich über ihre sozialen Netzwerke oder durch selbstorganisierte Kreditformen oder durch Genossenschaften Geld leihen mussten, die können jetzt einfach in eine Bank gehen. Und das ist natürlich in gewisser Weise eine positive Veränderung.

Aber wir müssen mal das Netz ein bisschen weiter auswerfen, wenn wir die tatsächlichen Effekte der Mikrokredite verstehen wollen, und fragen: Was bringt es oder was erwarten wir, dass es bringt, wenn jetzt jeder jederzeit in eine Bank laufen kann und einen Kredit aufnehmen kann? Schaffen es die Leute wirklich dadurch, Unternehmen aufzubauen, mit denen sie ihr eigenes Leben verbessern können und mit denen sie ihre Umwelt verändern, so wie man sich das jetzt von einem schwäbischen Unternehmertypen hier in Deutschland, von einem Mittelständler vorstellen würde, der 500 Mitarbeiter hat, der ein innovatives Produkt auf den Markt bringt und als Weltmarktführer etabliert?

Das ist bei Mikrokrediten nicht der Fall. Wir haben es wirklich mit der kleinsten, mit der minimalen Form von Überlebenstätigkeiten zu tun. Das ist im Prinzip die einzige Alternative, die die Menschen zum Betteln oder, noch schlimmer, zum Hungertod haben. Sie können irgend etwas verkaufen, irgendeine Dienstleistung anbieten, sie können sich an die Straße setzen und Mangos verkaufen, und sie sitzen aber neben 20 anderen Mangoverkäufern, die schon an derselben Straße vorher saßen, und teilen sich diesen Markt, der vorher schon bestand, einfach ein bisschen neu auf. Also ich würde sagen, die Erwartungen, die an die Mikrokredite gestellt werden, dass Menschen hier wirklich das Zepter in die Hand nehmen können und zum Schmied ihres eigenen Glücks werden können, diese Erwartungen kann man nur dann haben, wenn man ausklammert, dass die meisten Menschen genau diese Tätigkeiten schon verrichten und damit noch nirgends hingekommen sind.

Meyer: Diese Mikrokredit-Idee hatte ja eine Zeit lang auch dieses Image, das ist auch der Ausweg aus einigen Sackgassen der Entwicklungspolitik, weil hier gibt man kein Almosen, hier gibt man einen Kredit ohne Bevormundung, und man hilft anderen, sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien. Sie meinen nun: Das ist grundfalsch, das ist im Gegenteil eine reine Geschäftemacherei, die Ausnutzung einer Notlage?

Mader: Nein, das meine ich nicht. Also ich habe großen Respekt vor dem Idealismus, der diesen Mikrofinanzsektor antreibt. Das ist gewissermaßen eine Utopie, dass man sich hier vorstellt, es könnte jeder der Architekt seines eigenen Glücks werden, wenn er nur ein kleines bisschen Kapital bekommt dafür. Allerdings muss man auch konstatieren: Die Mikrokredite sind genau dann auf den Markt gekommen, als viele Staaten im Rahmen der Schuldenkrise in den 80er-Jahren von den westlichen Geldgebern in die Mangel genommen wurden und dazu gezwungen wurden, ihre Sozialprogramme, ihre Bildungsprogramme, ihre Grundsicherungssysteme abzubauen und öffentliche Güter zu privatisieren. Und dann kamen eben die westlichen Geldgeber rein und sagten: Ihr müsst jetzt den Leuten die Hilfe nur noch auf Kredit anbieten. Sie sollen sich das, was sie bekommen, selber erwirtschaften. Keiner ist mehr für die Armen verantwortlich außer sich selbst. Das ist also wiederum die Kehrseite dieser Utopie, die den Mikrokrediten zugrunde liegt.

Meyer: Sie sprechen auch davon, dass die Armen diszipliniert werden durch diese Kredite. Was meinen Sie damit?

Mader: Das ganze System basiert darauf, dass die Menschen regelmäßig ihre Kredite zurückzahlen, also Woche für Woche. Die meisten Kredite werden wöchentlich in etwa 50 oder 52 Wochen, also im Laufe eines Jahres, komplett wieder eingetrieben. Das macht es den Banken möglich, sehr genau hinzuschauen, wer ist ein guter Schuldner, wer ist ein nicht verlässlicher Schuldner, indem sie das wöchentlich bezahlen. Und der Bankmitarbeiter, der kommt dann tatsächlich in die Dörfer, der versammelt die Gruppen, an die er das Geld verliehen hat, und schaut, dass dann auch jeder sein Geld abliefert.

Wer jetzt in einer Woche nicht das Geld zusammenkratzen konnte, der wird dann eben bestraft, dadurch, dass die Freunde oder Verwandte und Bekannte, die mit in der Kreditnehmergruppe sind, dass die auch das Treffen nicht verlassen dürfen. Und das hat eben zu teilweise recht bizarren Auswüchsen geführt in Entwicklungsländern, beispielsweise dort, wo ich meine Forschung gemacht habe, in Andhra Pradhesh, sind eben Kinder entführt worden, um Menschen diese Zahlungen auszupressen. Und es wurde teilweise auf Anraten der Bankmitarbeiter Menschen gesagt: Ihr könntet ja schlimmstenfalls euch umbringen, denn dann bekommt die Bank wenigstens die Lebensversicherungspolice noch ausbezahlt. Das sind alles Auswüchse, die natürlich nicht so intendiert waren. Aber die führen dazu, dass im Regelfall die Leute so lange sie es nur können sich selbst disziplinieren, im Interesse dessen, möglichst zeitig an die Bank ihren Kredit zu bezahlen.

Meyer: Was kann man nun tun mit einem System, das zu solchen Auswüchsen geführt hat? Was würden Sie nach Ihren Studien sagen? Ist dieses Mikrofinanzsystem … Sollte das überhaupt noch fortgesetzt werden?

Mader: Es ist mit Sicherheit sinnvoll, Menschen, die tatsächliche Unternehmer in spe sind, Zugang zu Kapital zu ermöglichen. Das tun auch manche Banken, die sich inzwischen aus dem Mikrofinanzsektor entfernt haben und nur noch an sogenannte kleine und mittlere Unternehmen verleihen. Aber man muss schon auch über den Horizont des Mikrofinanzsystems herausschauen und sich überlegen: Wie macht man eigentlich erfolgreiche Entwicklungspolitik?

Und dazu gehört nicht nur der Aufbau von Banken und Menschen zu Kreditnehmern zu machen und in das Finanzsystem reinzuholen, sondern eben auch zu schauen, dass man versucht, Umverteilungen von Reich zu Arm in diesen Ländern, wo es durchaus sehr viele reiche Menschen gibt, zu ermöglichen. Das wäre eine entwicklungspolitische Strategie, die Deutschland auch jetzt unter einer neuen Regierung vielleicht umsetzen könnte.

Meyer: Die Zukunft der Mikrokredite, darüber haben wir gesprochen mit dem Volkswirtschaftler Philip Mader, er bekommt in diesem Monat für seine Studie über das Mikrokreditsystem den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung, und er wird im kommenden Jahr ein Buch zu diesem Thema veröffentlichen im Campus Verlag. Herr Mader, besten Dank für das Gespräch!

Mader: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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