Schellackplatten

Suchen, sammeln, tauschen

30:28 Minuten
In einer Ausstellung sind mehrere Schellackplatten über Kopf aufgehängt. Ein Besucher betrachtet sie.
Musik aus aller Welt: Bis in die 1970er-Jahre wurden Schellackplatten für Musikproduktionen genutzt. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen
Von Arndt Peltner · 30.07.2021
Bei Schellackplatten denken die meisten an Musik, die in den Anfangsjahren der Plattenindustrie aufgenommen wurde. Doch gerade 78er-Platten waren ein weltweites Phänomen, das bis in die 1970er-Jahre weiterlebte. Heute sind sie gefragte Sammelstücke.
Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Schallplattenindustrie in den Händen der multinationalen Konzerne aus den USA und Europa, doch danach entwickelte sich eine rege lokale und regionale Schellackplattenindustrie in vielen Ländern. Der Sammler Jonathan Ward hat sich auf diese Platten aus aller Welt spezialisiert, sie gesammelt, ausgewertet, darüber berichtet. Für ihn steht fest, dass dieser Teil der "78er"-Geschichte weitgehend übersehen wurde und unbedingt erzählt werden müsste – mit Musik aus Afrika, Asien, Osteuropa. Musik, die viel zu lange nur regional bekannt war.

Jonathan Ward – Sammler und Kenner

Jonathan Ward aus Los Angeles arbeitet im Hauptberuf als "Metadata Specialist" für Museen wie das Getty Museum. Aber Ward ist bekannter dafür, was er neben seinem eigentlichen Beruf macht. Seine Webseite excavatedshellac.com ist ein wahrer Schatz an Informationen über Schellackplatten aus aller Welt. 100 Stücke daraus hat er kürzlich in einem digitalen Boxset bei dem mehrfach Grammy-nominierten und -ausgezeichneten Independent Label "Dust-to-Digital" veröffentlicht.
Jonathan Ward ist nicht nur ein Sammler von Schellackplatten, er ist einer der bedeutendsten Kenner der internationalen Plattenindustrie, wenn es um 78er-Aufnahmen geht. Immer wieder ist sein Fachwissen für historische Boxsets gefragt, so auch bei mehreren Veröffentlichungen des deutschen Labels "Bear Familly"-Records.
Aufgewachsen ist Ward auf einer Insel vor New England. In seiner Familie wurde viel musiziert, mit den Schallplatten seiner Eltern wuchs er auf. Auf dieser Insel konnte man nur zwei Sachen machen, sagt Ward. Hinaus in die Natur gehen und Musik hören, beschreibt Jonathan Ward diese Jahre. Als Jugendlicher nahm er dann immer mal wieder den Bus nach Boston oder New York und suchte dort die Plattenläden auf, um für sein selbst verdientes Geld erste Schallplatten zu kaufen.

Digitalisiert für den Download

Für die bei "Dust-to-Digital"-Records erschienene umfangreiche Sammlung "Excavated Shellac" hat Jonathan Ward Musik von überallher zusammengetragen. Diese Sammlung wird ganz bewusst nur digital zum Download veröffentlicht, um so eine Hörerschaft auch in all jenen Ländern zu finden, die man mit einer CD oder LP nicht erreichen würde.
Bis 1925 hatten Plattenlabels in den Vereinigten Staaten, wie die Columbia, schon 225 Platten allein für die ukrainischen Einwanderer veröffentlicht. Ein Klangschatz, der über Jahrzehnte außerhalb der eigentlichen Zielgruppe meist unbeachtet blieb.
Es ist eines dieser vielen Stücke, mit denen Jonathan Ward zeigt, wie wenig über den musikalischen Reichtum und die Vielfalt auf Schellackplatten bekannt ist, aber auch wie dominierend und wie wichtig diese Verbreitungsform für Musik im 20. Jahrhundert war. In einigen Ländern wurden bis in die 1970er-Jahre 78er-Platten produziert.

78er waren das Hauptformat im 20. Jahrhundert

"Klar, viele der Platten sind schwer zu finden", sagt Jonathan Ward. "Und oftmals beschränkt man sich bei diesen frühen Aufnahmen auf die westliche Musik. Meistens zumindest. Nur wenige wissen, dass in Indien fast eine halbe Million 78er veröffentlicht wurden. Keine Kopien, sondern Einzelveröffentlichungen. Eine unglaubliche Menge an 78er-Platten. 78er waren das Hauptformat im 20. Jahrhundert.
Auf einigen Kontinenten wurden sie ganz langsam aus dem Verkehr gezogen. In den USA ging man dann zur 45er und zur Langspielplatte über. In den 1950er-Jahren war die 78er hier praktisch verschwunden. Aber das war nicht so in Afrika und in manchen Teilen Asiens. Es gab da weiterhin Grammophone und auch spezielle 78er-Jukeboxes. 78er galten als kurzlebig, als zerbrechlich und sich leicht verbiegend. Sie wurden also kaum noch beachtet, auch nicht von den Menschen in jenen Ländern, die selbst eine bedeutende 78er-Industrie hatten. Es ist wohl noch immer eher eine Nischensammlerleidenschaft."

Lokale Musikaufnahmen – dominiert von den Multis

Die Zonophone etwa, ein Tochterlabel der Deutschen Grammophon, nahm innerhalb von drei Jahren 600 verschiedene Platten in 18 Lokalsprachen in West-Afrika auf. Allein diese Zahlen zeigen, wie wenig heute über diesen Reichtum an Aufnahmen auf Schellackplatten bekannt ist. Die 78er sind also viel mehr als nur Blues, Klassik und Tanzmusik.
"Bis vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die 78er-Industrie von europäischen und amerikanischen multinationalen Konzernen kontrolliert", sagt Ward. Da waren die "Victor Talking Machine Company" und die "Columbia" in den USA, sowie die Columbia als eigenständige Firma in Großbritannien. Und es gab eine Gruppe von Plattenfirmen in Deutschland. Sie alle schickten Aufnahmetechniker rund um den Globus, manchmal für Jahre, um lokale Musik vor Ort aufzunehmen. Diese Aufnahmen wurden dann zurück an die Presswerke gesendet und von da wieder in jene Länder, wo die Musik aufgenommen worden war, um sie dort zu verkaufen. So wurde das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht."

Die Revolution der unabhängigen Labels

"Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das allerdings. Die Wirtschaftskrise traf diese Unternehmen, einige gingen bankrott oder wurden zusammengelegt. In dieser Zeit kamen tragbare Aufnahmegeräte auf den Markt. Das führte dazu, dass kleine Läden in Afrika, Asien, Südamerika ihre eigenen Labels aufmachten, Platten pressten und sie im eigenen Shop verkauften. Es gab wirklich so etwas wie eine Revolution der unabhängigen Labels in den späten 1940er-Jahren. Es gab auch davor kleinere Labels, aber die waren die Minderheit. Die Industrie war bis dahin fest in der Hand der europäischen und amerikanischen Konzerne. Das änderte sich nun, und sie mussten auf einmal mit Hunderten von kleineren Labels in aller Welt konkurrieren."
Jonathan Ward hat selbst eine überschaubare Sammlung, ganz bewusst. Er sagt, er habe weniger als dreitausend 78er zu Hause. Ihm geht es nicht darum, so viele Platten wie nur möglich zu sammeln. Für Ward steht die Musik im Vordergrund, er möchte die Geschichte hinter den Aufnahmen beleuchten. Erst im letzten Jahr, als er wegen der Pandemie mehr Zeit daheim verbrachte, katalogisierte er zum ersten Mal all seine Platten. Er tauscht sich mit anderen Sammlern und Händlern aus, meist online. Doch auch auf seinen Reisen als Museumsexperte geht er auf die Suche nach alten Aufnahmen.

Dem Hobby geht der Nachwuchs aus

David Seubert ist der Kurator der "performing arts collection" der University of California in Santa Barbara. Zu dem Bestand gehört auch eine riesige Sammlung historischer Klangaufnahmen, eine der größten in den USA. Die Universität in Santa Barbara ist die einzige Einrichtung ihrer Art, die noch immer umfangreiche Sammlungen aufkauft. Seubert arbeitet seit Langem mit Jonathan Ward zusammen, der ihm immer wieder mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn es um das Auffinden von alten Aufnahmen, weiterführende Informationen und das Einordnen der Platten geht.
"Junge Leute wollen in der Regel nichts mehr sammeln", sagt Ward. "Es ist viel Arbeit, gerade wenn man 78er sammelt, denn man muss sie ja in einer annehmbaren, also hörbaren Qualität finden. Das ist schon mal schwer. Man kann sie nur mit speziellen Nadeln abspielen, die handgefertigt sein müssen, wenn man sie korrekt abspielen will. Man braucht besonderes Equipment. Manchmal ist das auch noch sehr alt und damit sehr teuer und muss gepflegt werden. Auch das ist nicht billig. Es gibt also viele Hürden ein Sammler von Schellackplatten zu werden, deshalb glaube ich, dass es immer weniger werden."
Ich habe keine Lieblingsplatte", sagt Ward. "Aber ich habe einige, die ich als sehr wichtig für diese Auswahl erachte, weil ich glaube, dass die meisten Leute im Westen oder auch Hörer dieser 'Excavated Shellac'-Sammlung überhaupt nicht wissen, dass es in Mauretanien, auf Mauritius oder auf den Okinawa-Inseln eine lebendige Musiklandschaft mit 78er-Platten und eigenen Labels gegeben hat."
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