Scherbenhaufen Europa

Von Ulrike Ackermann |
Aus der europäischen Idee ist ein Scherbenhaufen geworden, die Staaten, die Parlamente und die Bürger werden zunehmend entmündigt, demokratische Verfahren ausgesetzt und unterlaufen. Die Regierungschefs müssen zurück zu demokratisch legitimierten Lösungsansätzen, fordert die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann - und vor allem müssen sie die Bürger miteinbeziehen.
Es scheint lange her zu sein, als die Idee eines geeinten freiheitlichen Europas Bürger, Politiker und Märkte noch gleichermaßen begeisterte! Aus dem ehrgeizigen europäischen Projekt ist im Zuge der Staatsverschuldungs- und Finanzkrise ein ökonomischer und politischer Scherbenhaufen geworden.

Die Vergemeinschaftung der Schulden mit immer gigantischer werdenden Rettungsschirmen geht einher mit einem atemberaubenden Entmündigungsprozess: einzelner Staaten, der nationalen Parlamente und natürlich der Bürger. Verträge wurden gebrochen, demokratische Verfahren ausgesetzt und unterlaufen.

Das Heil sehen EU-Beamte, europäische Regierungschefs und ihre Finanzminister in noch mehr zentraler Planung, Lenkung, Egalisierung und Vereinheitlichung. Obwohl uns die Geschichte gelehrt haben sollte, dass uns Zentralisierung und Planwirtschaft in der Vergangenheit gerade nicht Freiheit, Demokratie und Wohlstand gebracht haben.

Denn ein überregulierter europäischer Superstaat zerstört die Vielfalt und den Wettbewerb – also all das, was die bisherige Erfolgsgeschichte des freiheitlichen Europas ausgemacht hat. Mit einer Transferunion wird die Verantwortung der Einzelstaaten suspendiert und private Gläubiger aus der Haftung entlassen. Die unheilvolle Verstrickung von Politik und Großbanken ist ebenso wenig geeignet, die Krise zu lösen.

Wenn der europäische Integrationsprozess auf Zwang beruht, von Rechtsbrüchen begleitet ist und auf dem Rücken der Steuerzahler ausgetragen wird, braucht man sich nicht zu wundern, dass die Skepsis der Bürger gegenüber den europäischen Institutionen und dem als alternativlos dargestellten Einigungsprozess wächst.

Mit Sorge beobachten sie die Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien und die zunehmende Abtretung nationaler Hoheitsrechte an die EU. Uniformisierung, Bürokratisierung und Regulierungswahn begleiten eine europäische Integration, die offensichtlich zum Selbstzweck geworden ist. Der Preis ist freilich hoch: die schleichende Entwicklung hin zum Bundesstaat ist begleitet von einem enormen Demokratiedefizit.

Vergessen scheint inzwischen, dass die Einigung Europas nach den zwei Weltkriegen nicht nur ein Friedensprojekt, sondern immer auch ein Freiheitsprojekt als Antwort auf die totalitären Erfahrungen war. Die Gründerväter knüpften ausdrücklich an Werte und Errungenschaften an, die die europäische Kultur sukzessive hervorgebracht hat.

Der griechischen Polis verdanken wir die Idee des Bürgers und des Rechtsstaats, dem Römischen Recht das Privateigentum, der Vernunft der Aufklärung die Trennung von Staat und Religion und die Postulierung der Freiheit des Individuums.

Die über Jahrhunderte hart erkämpften Menschen- und Bürgerrechte waren Voraussetzung für die Entstehung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, technischer Fortschritt und industrielle Revolution beförderten die Marktwirtschaft. Die europäische Kultur ist erfolgreich gewesen, weil sie von Offenheit, Neugierde und Skepsis geprägt ist, der Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkorrektur.

Es scheint höchste Zeit, um der Freiheit und um Europas willen, das Subsidiaritätsprinzip, die Vielfalt der Wege und die Mannigfaltigkeit der nationalen Kulturen gegen einen hinter dem Rücken der Bürger entstehenden Einheitsstaat stark zu machen. Dem Mantra von der Alternativlosigkeit dieses Weges hat die niederländische Regierung gerade klug geantwortet: "europäisch wenn nötig, national wenn möglich."

Weitere Integrationsschritte können nur gelingen, wenn sie demokratisch legitimiert sind und einen Bund souveräner Staaten stärken - und endlich die Bürger an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Sonst sieht es finster aus für das Freiheitsprojekt Europa.

Dr. Ulrike Ackermann, geb. 1957, Studium der Politik, Soziologie und Neueren Deutschen Philologie in Frankfurt/ Main, ab 1977 Zusammenarbeit mit der Charta 77, dem polnischen KOR, der Solidarnosc und anderen Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa. Sie war verantwortliche Redakteurin der "Frankfurter Hefte/ Neue Gesellschaft", wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung, Gründerin und Leiterin des Europäischen Forums an der Berlin-Brandenburgischen Akademie für Wissenschaften. Ulrike Ackermann ist Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung und Professorin für Politikwissenschaften an der SRH Hochschule Heidelberg. Buchveröffentlichungen: "Versuchung Europa", "Welche Freiheit. Plädoyer für eine offene Gesellschaft", "Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung". "Freiheitsindex 2011", "Freiheitsindex 2012", "Im Sog des Internets".
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