"legende" von Ronald M. Schernikau
An der Volksbühne in Berlin
Regie: Stefan Pucher
Ein atemberaubender Abend über gescheiterte Utopien
Als Ronald M. Schernikau 1991 an AIDS starb, hinterließ er ein umfangreiches unvollendetes Werk. Acht Jahre nach seinem Tod erschien sein Collagen-Werk „legende“. Nun wurde es an der Volksbühne inszeniert. Unser Kritiker ist begeistert.
Ronald M. Schernikau, in der DDR geboren, in Westdeutschland aufgewachsen, zum Studium nach Westberlin gegangen, war der erste und einzige Bundesbürger, der in den 1980er Jahren in der DDR, am Literatur-Institut in Leipzig studiert hat. Er lebte offen homosexuell, er war Kommunist und ließ sich schließlich von der DDR einbürgern. Das war zwei Monat vor der Wende. Die hat er als Konterrevolution empfunden.
Als er 1991 an AIDS starb, hinterließ er ein umfangreiches Manuskript, den Collage-Roman "legende". Acht Jahre später erschien das achthundert Seiten umfassende Buch. Das hat der Berliner Verbrecher Verlag neu herausgebracht - und an der Berliner Volksbühne wurde nun eine Theaterfassung von "legende" uraufgeführt.
Große Ernsthaftigkeit
Die Aufführung beginnt mit dem heruntergelassenen schwarzen Eisernen Vorhang. Darauf ist in weißer Schrift zu lesen: "Wien, Berlin, West-Berlin, Leipzig, Berlin 1983 bis 1991". Das verweist auf die wesentliche Handlungszeit der Szenenfolgen. Rechts vor dem Eisernen Vorhang ist, bescheiden und simpel, mit einer beleuchteten Werbung des VEB Grenzquell Wernesgrün, eine Kneipenkulisse angedeutet. Darunter sitzt eine Frau und sagt "Ich bin Irene Binz. Ich bin die Frau im Kofferraum. Ich bin der illegale Übertritt. Ich bin die Schmach." Sie spricht von Marx, Engels, Lenin, Stalin. Sie outet sich als Kommunistin, die dann aber, wie es im DDR-Jargon hieß, "rübergemacht hat". Das ist im Grunde die Mutter des Autors. – Mit ihr wird ganz leise, sehr zärtlich, in diesen großen, auch an Gedanken reichen Abend geführt.
Damit wird schon deutlich, wie ernsthaft Regisseur Stefan Pucher, Dramaturg Malte Ubenauf und das Team an das erst einmal unmöglich erscheinende Unterfangen der Dramatisierung von "legende" herangegangen sind. Dann geht der Eiserne Vorhang hoch, es gibt Musik, sehr jazzig, gespielt von drei Musikern an verschiedenen Instrumenten, oft eine gewisse Bar-Atmosphäre suggerierend. Damit wird das Publikum in den großen Abend geführt, der dann aufregend wird, im besten Sinne auch mal irritierend, der einem den Atem nimmt, der einem sehr viel Stoff zum Nachdenken schenkt.
Gewichtige Fragen
Das kaleidoskopartige Geschehen führt auf die Insel West-Berlin, wobei sofort klar ist - wir haben 2019 - dass die Inszenierung, natürlich anders als die Vorlage, auch auf die heutige Situation Deutschlands anspielt, etwa auf den Versuch des Sich-Abschottens vor den heutigen Problemen, wie etwa dem der Migration, der neuen Völkerwanderung.
Ausgangspunkt dabei ist, wie bei Schernikau, der Versuch von vier Göttern, die Namen haben wie Fifi oder Tete, in der Welt das Glück einzurichten. Diese Götter, das wird klar, waren mal Menschen, sehr bekannte: nämlich die Schauspielerin Therese Giehse, die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, der Schriftsteller Klaus Mann und der kommunistische Politiker Max Reimann.
Ihr Versuch der Glücksbringung ist so etwas wie der rote Faden an diesem Abend. Sie müssen sich aber fragen, "Warum macht man sich eigentlich lächerlich, wenn man für das Glück der Menschen kämpft?" Der Abend stellt gewichtige Fragen wie diese. Und er illustriert vor allem eines, nämlich, dass die Historie auch eine große Farce war, dass beispielsweise das Gegeneinander von Sozialismus und Kapitalismus letztlich nichts anderes war als ein verzweifelter Überlebenskampf, den beide Systeme, das wissen wir heute, verloren haben.
Stilsichere Inszenierung
Regisseur Stefan Pucher bleibt seinem Inszenierungsstil, gekennzeichnet etwa von viel Musik- und Video-Einsatz, treu. Und das mit ungeheurer Eleganz und Stringenz. Dabei ist es so, dass die Figuren oft mehr erzählen als spielen, also Ereignisse in Szenen übersetzt werden. Was gut funktioniert.
Allerdings gibt es ein Problem: Der Autor ist 1991 verstorben, konnte also viele gesellschaftliche Entwicklungen und Erscheinungen nicht voraussehen, also auch nicht reflektieren. Manche seiner Kritik wirkt darum aus heutiger Sicht ein wenig kuschelig. Die heutigen großen Verwerfungen, die globalen Probleme, muss man also als Zuschauer selbst mitdenken.
Aber: Da Pucher stilistisch sicher inszeniert hat, auf psychologischen Naturalismus verzichtend, eher auf Comic-Kunst und Komödiantisches setzend, auf Show, auf das Ausstellen der Figuren und damit Gedanken und Thesen, das Vorführen, und das, wie schon angedeutet, in bezwingender Ernsthaftigkeit, erreicht der Abend eine große Intensität, die sehr anregend ist. Man darf ja als Theaterbesucher mitdenken und die Gedanken Schernikaus fortführen.
Das Klohäuschen regt zum Nachdenken an
Ein Beispiel: Wenn das Märchen vom Klo-Häuschen am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, das so gern ein Zeitungskiosk wäre, erzählt wird, führt das dazu, dass man über den Zustand der Welt nachdenkt, darüber, warum wir Menschen offensichtlich nicht in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen und die möglicherweise richtigen Schlüsse zu ziehen.
Die Inszenierung belegt, wie gut es ist, dass der Roman "legende" neu aufgelegt wurde. Gut, dass es diesen Theaterabend gibt. Pucher ist mit seinem Team sozusagen mit einer Machete durch die achthundert Seiten gegangen, hat mutig gekürzt, gerafft, konzentriert, dabei die Intelligenz und den Humor erhalten, auch, was ja für Ronald M. Schernikau sehr wichtig war, die Auseinandersetzung mit schwulem Selbstbewusstsein. Das ist hochintelligent.
Gescheiterte Utopien
Und es ist auch schön verwirrend: So fragt man sich anfänglich, warum die Schauspielerinnen und Schauspieler so agieren, wie sie es tun, nämlich völlig unglamourös, überhaupt nicht schön. Und man begreift rasch, dass das bewusst scheinbar laienhaft ist. Damit wird jegliche Sentimentalität vermieden, wird die Schärfe der Assoziationsketten von Schernikau deutlich herausgearbeitet.
Hervorgehoben sei Katharina Marie Schubert als kommunistische Politikerin in West-Berlin, Lydia Soldat, geborene Königin. Sie versucht, dem Kommunismus zum Sieg zu verhelfen und erlebt nur eins: Scheitern. Sie bringt auf den Punkt, was der ganze Abend illustriert: dass die Utopien der 1970er und 80er Jahre generell gescheitert sind. Da geht man denn mit dem beunruhigenden Gedanken nach Hause, dass heutzutage keine Utopien mehr auszumachen sind.