Heiligtümer, Trauer, Revolution
21:38 Minuten
Jahrhundertelang wurden die Schiiten von der sunnitischen Mehrheit unterdrückt. Nun werden sie aktiver und erzielen Erfolge, zuletzt bei der Parlamentswahl im Irak. Wie sich die schiitische Welt wandelt, zeigt eine Reise zu ihren heiligen Stätten.
Um die rund 1400 Jahre alte Geschichte und die Zukunft des schiitischen Islams zu erkunden, verlassen wir bei Sonnenaufgang Bagdad. Unser Auto arbeitet sich durch einen Checkpoint nach dem anderen, in die Außenbezirke der irakischen Hauptstadt. Vorbei an Militärfahrzeugen, MG-Nestern, Stacheldrahtverhauen. Auf der Straße Richtung Süden überqueren wir den Tigris.
Längs der Strecke zeigen sich nun Bewässerungskanäle, die zu grün schimmernden Feldern und zu Palmenhainen führen. Krieg und Gewalt, die sonst den Irak medial dominieren, scheinen hier auf einmal weit weg. Andere Dinge bestimmen den Alltag; Bewässerung und Ernte, kleine Märkte, auf denen Selbstversorger ihre Überschüsse austauschen. Wer sich hier als westlicher Journalist allerdings einigermaßen sicher bewegen will, braucht einen örtlichen Begleiter. Einen wie Rahim: Englischdozent an der Mustansiriyah-Universität von Bagdad und außerdem tiefgläubiger Schiit.
Kapitel 1: Heiliges Kerbela
Im Irak stellen die Schiiten mit rund 70 Prozent die Mehrheit. Weltweit sind sie aber mit etwa zehn Prozent der Muslime nur eine Minderheit. Doch überall im Nahen Osten - im Irak, in Syrien, im Libanon, im Jemen - scheinen Schiiten den sunnitisch orientierten Großteil der Muslime herauszufordern und dabei auch immer mehr Erfolge zu erzielen.
Einer ihrer heiligen Städte ist Kerbela. Als ich den Namen meinem Begleiter Rahim sage, füllen sich seine Augen mit Tränen. Der 30-Jährige ist eigentlich sehr ernst, wirkt gesetzt, fast bedächtig, Emotionen zeigt er kaum. Aber jetzt werden seine Augen größer.
"Kerbela ist die heiligste Stadt für die Muslime, besonders für die Schiiten. Es ist die Stadt, in der Imam Hussein und sein Bruder Imam Abbas begraben sind. Die Söhne von Imam Ali. Diese beiden großen Persönlichkeiten haben ihr Leben für den Islam gegeben."
Warum Imam Ali und seine beiden Söhne so große Persönlichkeiten für den Islam waren, wird mein Begleiter Rahim gleich erklären. Erstmal fahren wir in Kerbela ein – die heilige Stadt zwei Autostunden südlich von Bagdad. Längs der Straßen hängen Fotos diverser Ayatollahs, hoher Geistlicher, auf Schildern: weißbärtige Männer mit schwarzen oder weißen Turbanen, die ihre jeweilige Stellung in der komplexen Hierarchie des schiitischen Klerus anzeigen.
Wir parken in einer Seitenstraße mit Geschäften, die Devotionalien verkaufen. Zum Beispiel gerahmte Koransprüche, Räucher- und Duftstoffe und Bilder der schiitischen Imame:
Al Hassan, al Abbas, al Bakr, al Sadr, Musa al Kasim … Die Flut der Namen und der Bilder verwirrt und will schier kein Ende nehmen. Heilige und Märtyrer aus alter und aus neuer Zeit, aber am Ende bleiben immer zwei Namen übrig: Hussein und Ali.
Mit Ali habe alles begonnen, erklärt Rahim. Ali war der Schwiegersohn des Propheten – der Ehemann von dessen Tochter Fatema.
"Der Prophet Mohammed hatte in Bezug auf Ali – seinen Schwiegersohn – gesagt: Er ist mein rechtmäßiger Nachfolger. Deshalb glauben die Schiiten, dass die Nachfolge von Anfang an ihm zukam. Zu Ali. Und Ali wiederum hielt die Muslime dazu an, seinem Sohn Hussein zu folgen. Ihren Widersachern aber ging es von jeher nur um die Macht. Sie hingen mehr am Leben als am Paradies."
Die Widersacher zu jener Zeit vor rund 1300 Jahren fanden sich unter der alteingesessenen Stammeselite, die die Arabische Halbinsel bereits in vorislamischer Zeit dominiert hatte. Ihnen ging es nicht nur um Religion. Vor allem ging es ihnen darum, dass sie die Macht über Staat und Gesellschaft behielten, die sie schon vor dem Islam hatten.
Und so kam es zum gewaltsamen Kampf. Im Jahr 680 trafen sich bei Kerbela die Kämpfer des Mekkaner Omayadenclans und der Partei Alis. Arabisch: Schiat Ali. Später wurde daraus schlicht Schia. Unser Begleiter deutet auf eine Straße, die leicht ansteigt.
Kapitel 2: Ursprung des Märtyrerkults
"Das ist der Hügel von Sinab. Benannt nach der Schwester von Hussein und seinem Bruder Abbas. Sinab stand während der Schlacht im Jahr 680 auf diesem Hügel, um ihre Brüder zum Kampf für den Islam anzufeuern. Die Gefolgsleute Husseins hatten hier ringsum ihre Zelte aufgeschlagen."
Hussein – der Sohn Alis - verfügte aber nur über rund 50 bewaffnete Anhänger. Sie sahen sich der Armee der Omayaden gegenüber, einer Mekkaner Aristokratenfamilie unter der Führung ihres Kalifen Muawiya – mehrere Tausend Mann. Was hier stattfand, war weniger eine Schlacht als ein Gemetzel unter den Schiiten. Das geht aus den Illustrationen hervor, an denen die schiitische Tradition reich ist. Sie zeigen immer wiederkehrende Bilder der Märtyrer: von Pfeilen durchbohrt oder mit abgetrennten Gliedmaßen zum Himmel empor blickend. Genau hier liegt der Ursprung des schiitischen Märtyrerkults.
"Als Hussein getötet wurde, und Abbas und alle weiteren Männer der Schiiten, blieben nur die Frauen übrig. Der Feind kam hierher, steckte die Zelte in Brand und nahm Husseins Schwester Sinab gefangen. Er brachte sie zu Husseins Herausforderer Muawija. Dies ist der Platz, an dem das Zeltlager gestanden hatte. Genau dort, wo wir jetzt stehen, hat sich die Schlacht von Kerbela abgespielt."
Der Ort des Blutvergießens im Jahr 680 ist heute voll bebaut mit Straßenzügen, Devotionalienläden und Sakralbauten. Es ist ein Zentrum der schiitischen Welt, ein heiliger Bezirk, zu dem die Gläubigen aus vielen Ländern pilgern. Wie diese Gruppe von Iranern, die sich am Ziel ihrer Reise versammelt haben, um die Namen der schiitischen Märytrer zu zitieren.
Die meisten Gassen des heiligen Bezirks führen auf die Imam-Hussein-Moschee zu, die neben Husseins Grab errichtet wurde. Ihre goldglänzende Kuppel erhebt sich über das gesamte Viertel und steht auf einem gigantischen freien Platz im Zentrum Kerbelas. Aus dem Innern des heiligen Schreins senden Lautsprecher tagein tagaus religiöse Rezitationen.
Schiiten-Aufstand gegen Saddam Hussein
Die Erfahrung von brutaler Gewalt spiegelt sich aber nicht nur in der Heilsgeschichte, sondern prägt bis heute auch den Alltag vieler Schiiten. Auch im Irak, wo sie eigentlich die Mehrheit bilden, aber lange vom sunnitischen Diktator Saddam Hussein unterdrückt wurden. Als der 1991 erst in Kuweit einmarschierte und dann durch internationale Truppen wieder vertrieben wurde, fassten auch die Schiiten im Irak Mut, gegen Hussein zu revoltieren. Aber ihr Aufstand wurde blutig niedergeschlagen mit vermutlich mehr als 100.000 Toten. Die Massengräber wurden erst Jahre später entdeckt.
Ein Zeugnis ist auch der riesige freie Platz rund um die Hussein-Moschee in Kerbela. Die einstigen Gebäude hier im heiligen Bezirk der Schiiten ließ der sunnitische Diktator zu großen Teilen niederreißen. Zwei Wächter vor der Moschee erzählen von den schwierigen Saddam-Jahren.
"Jeder Schiit, der im heiligen Bezirk gearbeitet hat, sollte damals an Saddams Geheimdienst Informationen liefern. Aber beinahe die gesamte Stadt hatte sich 1991 der Revolte gegen Saddam angeschlossen. Der hat daraufhin fürchterliche Rache genommen und Hunderte Menschen töten lassen."
Für meinen Begleiter Rahim, den Uni-Dozenten und tiefgläubigen Schiiten, geht es dabei immer um dieselbe Konfrontation. Auf der einen Seite arabische Stammesherrscher, Monarchen oder Diktatoren und ihre Religionsgelehrten – kurzum: die blanke Macht. Auf der anderen Seite: die religiöse Moral, die standhaften Streiter für die rechte Sache, die Erben der einzig legitimen Linie Alis.
In den Augen vieler geht der Konflikt bis heute weiter, von der Schlacht im Jahr 680 bis zur Revolte gegen Saddam Hussein 1991 und kürzlich gegen die sunnitische Terrormiliz "IS". Denn dessen Personal rekrutiert sich zu großen Teilen aus Saddams langjährigen Offizieren und engen Mitarbeitern.
Plötzlich kommen wir nicht weiter, müssen an die Seite treten. Ein langer Zug von Männern bewegt sich auf uns zu und weiter in Richtung der Hussein-Moschee. Wie in einer einzigen Bewegung schlagen sie sich immer wieder mit der Faust auf die Brust. Eine Selbstkasteiung voller Trauer über das Martyrium von damals und die Niederlage der gerechten Sache.
Kapitel 3: Der 12. Imam
Die Klage der Schiiten erstreckt sich auch auf Alis und Husseins Kinder und Kindeskinder. Sie wurden von Führern der sunnitischen Mehrheitsmuslime, den Kalifen, einer nach dem anderen drangsaliert, gefangen gehalten oder sogar ermordet. So endet die Linie Alis schon im Mittelalter mit dessen letztem leiblichen Nachkommen, dem so genannten "12. Imam". Er gilt den Schiiten allerdings weiterhin als lebendig, aber als "entrückt" oder "verborgen" und wird als Erlöser erwartet.
Aber genau an diesem Erlöser, dem "12. Imam", scheiden sich die Geister innerhalb der Schiiten. "Es gibt in der Schia einen revolutionären und einen antirevolutionären Ansatz", sagt Walid al Hilli. Der gehbehinderte ältere Herr repräsentiert die schiitisch dominierte Dawa-Partei. Sie gilt als älteste politische Bewegung der Schiiten im Irak – gegründet schon in den 1950er-Jahren:
"Die Anhänger der revolutionären Linie glauben, es brauche eine politische Regierung, natürlich in einem islamischen System. Die Vertreter der antirevolutionären Richtung lehnen dagegen jede Art von Regierung ab. Wenn wir jetzt bei den Befürwortern einer Regierung bleiben, dann kann man sagen, sie wollen einen gerechten Staat vor allem deshalb aufbauen, um dem 12. Imam später die Arbeit zu erleichtern. Wobei es unter ihnen zwei Untergruppen gibt: Die einen sind für eine gewaltsame Revolution, inspiriert von den linken europäischen Ideologien. Die anderen lehnen jede Gewalt ab und meinen, eine gerechte Regierung könne ausschließlich durch freie Wahlen zustande kommen."
Als Walid al Hilli, der Politiker der Dawa-Partei, das erklärt, regt sich mein Begleiter Rahim. Der tiefgläubige Schiit hält seine Verachtung für diejenigen Schiiten nicht lange zurück, die sich auch heute noch aufs Weinen, Klagen und Brustklopfen beschränken wollen und die irdische Gerechtigkeit als verloren ansehen.
Rote gegen schwarze Shia
"Ich bin ein Anhänger der roten Schia. Ich bin ein religiöser Revolutionär. Ich finde, unsere Art, die Religion zu leben, sollte sich nicht in leeren Trauerritualen erschöpfen. Das führt nur dazu, dass die Leute sagen: Diese Schiitensekte ist unfähig, die Gesellschaft zu verändern. Aber wenn wir unsere Rituale in Taten umwandeln, wenn wir die Macht ergreifen, können wir die Gesellschaft schon auf Erden im Sinne der Religion umwandeln."
Die rote Schia, der Rahim anhängt, ist jene, die mit der islamischen Revolution im Iran die Macht erlangte.
Einer ihrer Stars ist heute General Soleimani, der langjährige Chef der iranischen Revolutionsgarden. Die Videos mit seinen Reden sind in den Basaren von Kerbela omnipräsent. Soleimani versteht es geschickt, den traditionellen Kampf der Schiiten um Gerechtigkeit mit den geostrategischen Anliegen des Irans zu verknüpfen:
"Wenn die Nationen rund um uns in Bedrängnis sind, dann können wir das als Mitmenschen nicht einfach ruhig ansehen. Es ist unsere religiöse Pflicht, zu helfen. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Indem wir das tun, dienen wir zugleich auch unserem nationalen Interesse. "
Die Gegenhaltung zur roten Schia nimmt die so genannten schwarze Schia ein: Trauer kultivieren, zum Ritual verfeinern. Resignieren; abwarten. Sich im Provisorium einrichten, machbare Lösungen suchen - wissend, dass es eine irdische Gerechtigkeit vorerst nicht geben kann.
Die Kontraste zwischen diesen beiden Ansätzen: der schwarzen, der apolitisch-passiven und der roten, der politisch-aktivistischen, spiegeln sich nirgends so gut wie in Kerbelas Nachbarstadt Nadschaf. Auch sie zählt zu den sieben heiligen Städten des schiitischen Islams. Hier liegt das Grab Alis, des Stammvaters der Schiiten und hier liegt die schiitische Universität Hawza, der Ort für die regen Auseinandersetzungen zwischen beiden Strömungen.
Kapitel 4: Debatten-Hochburg Nadschaf
In den Straßen der Millionenstadt zeigen schon die verschiedenen Turbane, wer welchem Weltbild angehört, welches Staatsmodell bevorzugt und welchen religiös-akademischen Status er besitzt.
In den Bibliotheken finden sich Abhandlungen, die für die Zeit bis zur Ankunft des "12. Imams" eine parlamentarische Westminster-Demokratie nach westlichem Vorbild vorschlagen. Aber gleich daneben in den Regalen liegen auch die Kampfschriften iranischer Ayatollahs.
Die Gläubigen der "roten Schia" – die aktiv Politik machen will - treffen sich in Nadschaf vor dem Haus von Muqtada as-Sadr, preisen ihr Idol und warten darauf, dass er vor der Tür erscheint.
Muqtada nimmt zwar unter den Religionsgelehrten einen eher unteren Rang ein. Sein politisches Bündnis hat allerdings die Parlamentswahlen im Irak im Mai gewonnen.
Er ist ein Volkstribun, ein Milizenführer, der vier Jahre gegen die US-Invasion gekämpft hat und dem es heute gelingt in Tagesfrist, mit aktuellen politischen Forderungen Massen auf die Straßen zu bringen, oft mit den bewährten Feindbildern Westen, Israel und USA. Etwa, wenn seine Anhänger, wie hier, Amerika als "Feind Gottes" bezeichnen.
Die andere Seite: Die Anhänger der "schwarzen Schia" halten es – bis in die arabischen Golfstaaten hinein – vor allem mit dem irakischen Großayatollah Sistani.
Der betagte Gelehrte lebt ebenfalls in Nadschaf. Höchst zurückgezogen und tritt, wenn überhaupt, nur durch seine sorgfältig abgewogenen Gutachten in Erscheinung.
Seine Schriften verraten jedoch, wie vertraut er nicht nur mit islamischer, sondern auch mit christlicher Theologie und europäischer Philosophie ist. In der Straße zum Haus Sistanis geht es dann irgendwann nicht weiter. Ein Wächter wehrt alle Versuche ab, Kontakt zum Großayatollah aufzunehmen. Sistani macht seinem Ruf als großer Unbekannter alle Ehre.
Dennoch verfügt auch er über viele Anhänger. Einer von ihnen ist Akil, ein Automechaniker Anfang 40.
"Ich meine, wir haben genug Gewalt gehabt, wir brauchen jemanden wie unseren Großayatollah Sistani, der über friedliche Lösungen nachdenkt. Der Schiitenführer Muqtada as-Sadr ist ein primitiver Mensch. Ihn kann man überhaupt nicht mit Großayatollah Sistani vergleichen. Einem Gelehrten, der Jahrzehnte seines Lebens auf Studien verwandte und sich in der islamischen Tradition genauso gut auskennt wie mit den Verfassungen Europas."
"Nicht auf einzelne Denker kommt es an"
Aber es gibt auch noch eine Mitte: Eine ausgleichende Position zwischen den ganz unpolitischen und ganz revolutionären Strömungen innerhalb der Schitten - also zwischen den Anhängern Sistanis und denen von Muqtada as-Sadr. Dort jedenfalls verortet sich Scheich Hamoun Hammoudi. Er ist der Vorsitzende des Obersten Islamischen Rats im Irak, hat die irakische Verfassung 2005 mit ausgearbeitet und saß seit Saddam Husseins Sturz in allen irakischen Schiitenkoalitionen. Kritiker legen seiner Partei zwar ihre enge Bindung an die Ayatollahs in Teheran zur Last. Aber für Scheich Hammoudi ist das lediglich ein Zweckbündnis.
"Die Tore unserer Interpretation sind weit geöffnet. Und zu den bisher bekannten politischen Theorien lassen sich jederzeit neue hinzufügen. Nicht auf einzelne Denker kommt es an, worauf es ankommt ist, weiter zu denken. Unsere Gelehrten haben die verschiedensten Staatstheorien entwickelt. Khomeinis Theorie im Iran ist wirklich nur eine von vielen, sie unterscheidet sich grundlegend von den Auffassungen des irakischen eher gemäßigten Ayatollah Bakr as-Sadr und dessen Ideen unterscheiden sich wiederum von denen Scheich Shams-ed-Dins. Er ist mein geistlicher Lehrmeister. Ayatollah Shams-ed-Din ist gegen eine Regierung durch die Religionsgelehrten. Er spricht von einer Regierung durch eine Verfassung. Im Irak sind solche und andere theoretischen Konzepte aber erstmal zweitrangig. Hier müssen wir in erster Linie praktisch denken und realistische Lösungen suchen."