Deutschland-Reise statt Rom-Stipendium
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Im Juni 1905 begibt sich Maurice Ravel auf Schiffs-Tour- eine kleine Kreuzfahrt mit Freunden in Richtung Deutschland. Regelmäßig schreibt Ravel seinem Freund Maurice Delage von der glücklichen Fahrt.
Ravel folgte der Einladung der vermögenden Misia Edwards, die mit ihrer Jacht "Aimée" unterwegs war. Die Tour ging über die Maas nach Lüttich und Amsterdam und von da aus zur Rheinmündung. Weiter fuhren sie an Düsseldorf, Köln und Koblenz vorbei, bis nach Frankfurt am Main. Und von da zurück via Holland nach Le Havre.
Weit reisende Gönnerin
Die Gastgeberin Misia, geboren 1872 in St. Petersburg, entstammte einer polnischen Künstlerfamilie. Ihr Vater war ein prominenter Bildhauer, der sich 1880 erfolgreich in Paris niedergelassen hatte. 1893 heiratete sie den Verleger Thadée Natanson, den Herausgeber der "Revue Blanche", einer frühen Avantgarde-Zeitschrift.
Über Thadée lernte sie unzählige Künstler kennen, Theaterleute, Schriftsteller, Musiker und Maler. So Claude Débussy, Erik Satie und Igor Strawinsky, so Pierre-Auguste Renoir und Henri de Toulouse-Lautrec, der sie als kesse Schlittschuhläuferin zeichnete, oder die Maler Pierre Bonnard und Eduard Vuillard, die sie mehrfach porträtierten.
Auch prominente Schriftsteller und Dichter wie etwa Paul Verlaine und Stephane Mallarmé gehörten zu ihrem Freundeskreis - Dichter, deren Lyrik Maurice Ravel liebte und vertonte.
Musikliebhaberin mit ehrgeizigen Zielen
Misia selbst war eine talentierte Musikerin. Beeindruckt von ihrer Begabung, bot Gabriel Fauré an, sie zu unterrichten. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Pianistin zu werden – wie übrigens auch Maurice Ravel zu Beginn seiner Laufbahn. 1892 gab sie ihr erstes Konzert.
Das großzügige Hochzeitsgeschenk
Das Schiff, auf dem Ravel und die Gesellschaft reisten, war ein Hochzeitsgeschenk. Dreieinhalb Monate zuvor hatte Misia den millionenschweren Investor, Casino-Besitzer und Zeitungsverleger Alfred Edwards geheiratet, der ihr die Jacht quasi als Mitgift und Liebesbeweis überbrachte.
Er gab ihr den Namen "Aimée" - "Geliebte". Eine fünf Mann starke Crew nebst Kapitän kümmerte sich um alles. Es befanden sich mit den Gästen insgesamt 13 Personen an Bord.
Ravel war ein wacher Beobachter. Vieles, was er vom Schiff aus sah, war neu für ihn und lenkte ihn von den unmittelbar zurückliegenden Missständen um die Ablehnung seiner Teilnahme am Wettbewerb um den Prix de Rome ab. Wer diesen Preis ergattern konnte, dem wurde ein ausgedehnter, sorgenfreier Aufenthalt in Rom ermöglicht.
Die Prix-de-Rome-Katastrophe
Am 1. Juni hatte Freund Marnold im "Mercure de France" unter dem Titel "Le scandale de Prix de Rome" die Entscheidung des Preiskomitees, Ravel von diesem außerordentlich bedeutenden Wettbewerb auszuschließen, scharf verurteilt und als große Blamage für das gesamte Pariser Konservatorium bezeichnet. Wenige Tage zuvor hatte sich schon Romain Rolland kritisch gemeldet.
Die Artikel von Marnold und Rolland zeigten Wirkung. Théodore Dubois, der Direktor des Konservatoriums, ging in Ruhestand. Nun übernahm Gabriel Fauré die Leitung. Ravel hat sich zu den Vorgängen nicht geäußert. Das taten schon andere für ihn. In Wahrheit brachte die Affäre seinen Namen erst recht ins Gespräch und stärkte den Ruf des "Enfant Terrible" – verlieh ihm die Aura des genialen, aber verkannten Künstlers.
Auf zu neuen Ufern
Die Ablehnung war ein Wendepunkt in seiner Laufbahn. Man könnte die frisch angetretene Reise auf der " Aimée" auch als Entschädigung (als inoffiziellen Alternativpreis) seiner Pariser Freunde und Förderer betrachten, die in Ravel einen der führenden Vertreter der jüngsten französischen Musik sahen.
Die Reise bot Ravel jedoch noch ganz andere Überraschungen. Altvertraute Vorstellungen hinsichtlich Musik, Kunst und Literatur wurden wortwörtlich über Bord geworfen. Was hatte er nicht alles über den Rhein gehört, gelesen und an Darstellungen gesehen. Und nun erblickte er Hochöfen und Industrieanlagen.
Über Alsum berichtete er: "Eine Stadt aus Schloten, aus feuerspeienden Domen, die roten oder bläulichen Rauch ausstoßen. Das ist Alsum. Dort steht eine gigantische Eisengießerei, in der Tag und Nacht 24.000 Arbeiter tätig sind (…) Bei Einbruch der Dunkelheit sind wir zu den Fabriken gestiegen. Wie soll ich Ihnen den Eindruck dieser Schlösser aus flüssigem Metall beschreiben, dieser glühenden Kathedralen, dieser herrlichen Sinfonie aus Treibriemen, Pfeifen und gewaltigen Hammerschlägen, die einen einhüllt (…) Wie musikalisch das alles ist! Ich habe mir ernsthaft vorgenommen, etwas daraus zu machen…."
Industrielandschaft trifft auf Bilderbuchidylle
Und aus Frankfurt am Main vermeldet Ravel: "Gestern Abend angekommen. Schon das Museum besucht, wo ein wunderbarer Rembrandt zu sehen ist, ein Cranach und darüber hinaus auch ein Velasquez. Die Altstadt ist unglaublich. Man könnte sie für eine Fälschung halten - so gut ist sie erhalten."
Über die Rückreise von Frankfurt über Koblenz, Köln zur Nordseeküste verlor er kein Wort. Nach längerer Pause meldete er sich ein letztes Mal bei Freund Delage: "In knapp einer Woche werden wir zusammen sein, um über alles zu sprechen, was wir uns geschrieben haben und was wir denken. Dann aber Schluß damit verflixt noch mal. Ich kann meine Freude auf die Rückkehr nicht verhehlen."
Über die Rückreise von Frankfurt über Koblenz, Köln zur Nordseeküste verlor er kein Wort. Nach längerer Pause meldete er sich ein letztes Mal bei Freund Delage: "In knapp einer Woche werden wir zusammen sein, um über alles zu sprechen, was wir uns geschrieben haben und was wir denken. Dann aber Schluß damit verflixt noch mal. Ich kann meine Freude auf die Rückkehr nicht verhehlen."
Keine Lust aufs Komponieren
An Bord der "Aimée" schien Ravel nicht daran gedacht zu haben, seine Stimmungen und Erlebnisse kompositorisch zu fixieren. Der Madame de Saint-Marceaux, in deren Salon er verkehrte und der er sich freundschaftlich verbunden fühlte, schrieb er einen Monat später:
"Während der ganzen Reise habe ich keine zwei Takte zustande gebracht, aber eine Unmenge Eindrücke gesammelt, und bin guter Hoffnung, im jetzt kommenden Winter überaus produktiv zu sein. Nie war ich so glücklich zu leben, und bin der festen Überzeugung, dass Freude viel schöpferischer ist als Leiden. Das ist eine Ansicht wie jede andere. Ob ich mich geirrt habe, werden wir in diesem Winter ja sehen."
Schreiben nach der Reise
Neben den "Miroirs" vollendete er tatsächlich in der zweiten Jahreshälfte die Sonatine, mehrere Lieder (so einige der "Cinq mélodies populaires grecques"), und er begann mit Skizzen zu einem größeren Opernprojekt "la cloche engloutie" ("Die versunkene Glocke") nach einer Vorlage von Gerhard Hauptmann.