Schirrmacher fürchtet "notorischen Aufmerksamkeitsverlust" der Gesellschaft

Frank Schirrmacher im Gespräch mit Susanne Führer · 30.11.2009
Der Zwang zur ständigen Erreichbarkeit und die permanente Informationsüberflutung führen zu Konzentrationsmängeln, glaubt FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Zum anderen bestehe die Gefahr, dass Menschen nur noch nach Mustern bewertet werden, die Google & Co. vorgeben. Dabei bleibe die Kreativität und Unberechenbarkeit des Menschen auf der Strecke.
Susanne Führer: "Ich bin unkonzentriert, vergesslich und mein Hirn gibt jeder Ablenkung nach. Ich lebe ständig mit dem Gefühl, eine Information zu versäumen oder zu vergessen, und es gibt kein Risikomanagement, das mir hilft. Und das Schlimmste: Ich weiß noch nicht einmal, ob das, was ich weiß, wichtig ist, oder das, was ich vergessen habe, unwichtig."

Diese Zeilen stammen nicht von einem alten Menschen mit beginnender Demenz, sondern von einem wachen und wichtigen Mitspieler in den intellektuellen Debatten unseres Landes, von Frank Schirrmacher nämlich, einem der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Zu lesen sind sie in seinem neuen Buch "Payback". Guten Tag, Herr Schirrmacher!

Frank Schirrmacher: Ja, guten Tag, Frau Führer!

Führer: Ich bin ja nach der Lektüre Ihres Buches sehr froh, dass Sie unsere Interviewverabredung nicht vergessen haben und hoffe sehr, dass Sie jetzt nicht noch nebenher simsen, mailen und googeln oder irgendwas in die Tasten hauen.

Schirrmacher: Da kann ich Sie beruhigen, das mache ich nicht.

Führer: Sie beschreiben in Ihrem Buch ja diesen Zustand ständiger Überforderung und deswegen ja auch Erschöpfung durch Computer und Internet. Sie meinen, ständig würden irgendwo Informationen auf Sie warten und selbst wenn Sie nicht online sind, dann denken Sie an die Informationen, die Ihnen entgangen sein könnten. Warum hat diese neue Technologie diese ungeheure Macht?

Schirrmacher: Also man muss hier glaube ich zwei Seiten sehen. Das eine ist genau das, was Sie beschreiben, eine Informationsüberflutung, wie wir das nennen, die ja längst nicht mehr damit zu tun hat, dass wir erfahren, was Frau Merkel oder Herr Westerwelle von sich geben, sondern dass wir durch diese neuen und im Übrigen ja auch tollen Technologien erfahren auf eine ganz andere Weise, was unsere Verwandten, unsere Freunde machen. Wir sind also praktisch permanent in einer Informationsflut, wie sie sicherlich in der Menschengeschichte einzigartig ist. Das ist das eine.

Das andere ist aber, dass unterhalb dieser gesamten Flut ja eine Technologie existiert: der Computer, an den wir uns ja jetzt schon sehr schön gewöhnt haben. Und diese Computer sind nicht nur unsere Freunde – ich glaube, das müssen wir in Erinnerung rufen –, sondern sie fordern von uns ein bestimmtes Arbeiten und Denken. Ein Stichwort dafür ist Multitasking. Multitasking ist so eine Art Religion unserer Zeit – jeder muss es können, übrigens wird ja auch immer wieder behauptet, besonders Frauen. Und das betrifft das digitale, aber auch das wirkliche Leben, alles gleichzeitig machen. Übrigens ein Begriff, der von den Computern kommt, den gab es vorher gar nicht.

Führer: Herr Schirrmacher, Entschuldigung, kommen wir doch noch mal zurück zu diesen Symptomen, also die Überforderung und Erschöpfung, weil Sie sozusagen ... Sie beschreiben zumindest von sich, Sie seien nervös, vergesslich und würden immerzu irgendwie auf Informationen lauern und machen dann gleich den Schluss, das sei ein Massenphänomen. Sie schreiben an einer Stelle sogar: Für die meisten Menschen der westlichen Welt wäre es wie Verhungern, wenn sie auf SMS und E-Mails und so weiter verzichten müssten. Das schien mir etwas gewagt: die meisten Menschen.

Schirrmacher: Ja, das ist jetzt ja nicht, also ich gehe ja zwar von mir aus, aber es ist ja nicht jetzt eine Erfindung, sondern ich beziehe mich ja auf Untersuchungen, auf Studien, die ja alle dokumentiert sind, zum größten Teil natürlich im Augenblick aus Amerika kommen. Natürlich ist es bei dem einen schwächer, bei dem anderen stärker ausgeprägt, aber diese Sucht oder diese Notwendigkeit der Erreichbarkeit, diese Notwendigkeit, ständig vernetzt zu sein, erreichbar zu sein und zu kommunizieren, das heißt zu antworten, die ist eigentlich eines der bestbekannten Phänomene, die man auch, finde ich, jetzt schwer bestreiten kann, wenn man sich die entsprechenden Erkenntnisse der Hirnforschung anschaut, die insbesondere ja auch jüngere Menschen betreffen, dass hier eine Überforderung eintritt durch Informationsüberflutung, die natürlich, wenn sie nur Fernsehen, Radio und Zeitungen haben, nicht da war.

Also wenn Sie eine der Glücklichen sind, die das nicht nachvollziehen kann, dann beneide ich Sie sehr. Ich glaube, es ist fast eine endemische Krankheit in unserer Gesellschaft. Übrigens sind diese Konzentrations- und Gedächtnisverluste ja mittlerweile auch richtig spürbar. Wenn Sie zum Beispiel auch die ganzen Fehlleistungen in der Gesellschaft sich anschauen – von der Finanzkrise, die sehr viel auch mit Computern zu tun hatte bis zu allem Möglichen anderen.

Führer: Ich versuche mal, jetzt trotz Konzentrationsschwächen und Fehlleistungen ein bisschen hier noch im Faden bei dem Gespräch zu bleiben. Wir waren bei dem Punkt, dass der Computer sozusagen etwas ganz anderes ist, was ganz Neues als eben Buch, Radio, Fernsehen, weil er selbst Akteur ist, so schreiben Sie das, also es gibt eine Wechselwirkung zwischen mir und dem Computer, was es zwischen mir und dem Fernseher nicht gibt. Aber inwiefern verändert denn das mich, also den Menschen?

Schirrmacher: Man muss davon ausgehen, der Computer ist ein in Anführungszeichen "intelligentes System". Das ist nicht etwas, was nur Empfänger, Sender kennt, sondern das ja mit ihm kommuniziert. Das können Sie sofort feststellen, wenn Sie bei Google einen Suchbegriff eingeben und mittlerweile ja unglaublich gute Antworten bekommen. Das heißt, der Computer lernt Sie kennen, lernt Ihre Interessen mehr und besser kennen, das heißt die Software, die darunterliegt, und das ist etwas völlig anderes als bei traditionellen Medienformen. Der spielt mit sozusagen.

Und wenn Sie jetzt sagen – das wird mir ja oft geraten –, dass man sein Handy abschalten soll, sein SMS abschalten soll und so weiter, dann muss man sehen, das läuft trotzdem weiter, weil diese ganze Software natürlich auch benutzt wird in Unternehmen, bei Arbeitgebern, bei Krankenkassen, in denen über Computer Verhalten von Menschen und Fähigkeiten von Menschen analysiert werden. Das heißt, der Siegeszug der Computer ist weit mehr als das Internet.

Führer: Der "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher im Gespräch im Deutschlandradio Kultur über die Chancen, ja, und Risiken des Informationszeitalters. Der Computer ist weit mehr als das Internet, sagen Sie. Also das heißt, diese Datenmengen empfinden Sie, die also über uns sozusagen dann mit der Zeit gesammelt werden, dazu diese ... (Abbruch Telefonat)
Das war jetzt eine alte telefonische Datenleitung, sie ist jetzt leider zusammengebrochen. Wir versuchen noch mal, Herrn Schirrmacher noch mal für den zweiten Teil unseres Gespräches zu erreichen.

Und hier geht es jetzt weiter im Gespräch mit Frank Schirrmacher, dem "FAZ"-Herausgeber, der gerade ein neues Buch geschrieben hat, "Payback" heißt es, und es geht um das Informationszeitalter, und wir sind ... Herr Schirrmacher, sind Sie denn jetzt dran?

Schirrmacher: Ja, ich bin da.

Führer: Eben gerade gekappt worden, weil Bauarbeiten bei Ihnen stattfinden und die Telefonleitung durchgehämmert worden ist.

Schirrmacher: Und das ist die wirkliche Ökonomie sozusagen, wenn die Wirklichkeit in die virtuelle Welt einbricht.

Führer: Gut, jetzt kommen wir doch noch mal zurück zu Ihrem Buch. Sie hatten das Problem mit dem Multitasking angesprochen, also ganz viele Sachen gleichzeitig machen, und dass das die Menschen überfordert. Dann habe ich mich gefragt, na ja, die Menschheit hat doch nun in den vergangenen Jahrhunderten so enorm viele Anpassungsleistungen vollbracht – man denke mal an die Industrialisierung, ja, von der Agrargesellschaft –, warum meinen Sie, dass das in diesem Fall nicht möglich sein wird?

Schirrmacher: Es wird genau möglich sein, das ist gar nicht der Punkt. Es wird möglich sein, aber es wird einen Preis kosten. Und es wird auch, um das deutlich zu sagen, nicht aufzuhalten sein. Es wird möglich sein, so wie wir auch gelernt haben, an Fließbändern und unter Stoppuhren zu arbeiten, aber für all so etwas muss man etwas bezahlen. Und das, was man hier bezahlen muss, sind – davon bin ich überzeugt und davon sprechen auch viele Daten – sind alles Sachen, die mit der Kreativität und der Unberechenbarkeit des Menschen zu tun haben.

Sie müssen ja sich vorstellen, der Aufmerksamkeitsverlust, den ich selber habe und den ich jetzt sozusagen, der notorisch wird in unserer Gesellschaft, das ist eine Sache. Aber wie ist das, wenn mein künftiger Arbeitgeber, wenn sozusagen die Leute, die künftig über einen entscheiden und ja auch diese Systeme benutzen, um diese Entscheidungen zu treffen, auch diese Störungen haben, beziehungsweise sagen, ja, das kann der Computer viel besser – dann werden wir zu Entitäten, die eigentlich zu, ja, zu mathematischen Formeln, wenn Sie so wollen. Und dafür gibt es ja mittlerweile schon ganz viele Beispiele.

Ich nenne in meinem Buch ja ein paar Entwicklungen – nicht nur in den amerikanischen großen Konzernen –, wo wirklich mit den gleichen Mitteln, die heute in dem Internet, die wir alle kennen, ob das jetzt Google ist oder Ähnliches, die E-Mails von Mitarbeitern ausgewertet werden, ihre Leistungen bewertet werden, nicht nur die richtig faktischen Leistungen, sondern auch ihre Kreativität, und dann berechnet wird, was ist dieser Mensch heute für mich wert, was ist er für mich morgen wert. Und das sind Dinge, die sozusagen, ja, sag ich mal, die, wenn man sie ganz den Rechnern überlässt, doch sehr gefährlich sein können.

Führer: Herr Schirrmacher, wir sollten aber in den drei Minuten, die uns jetzt noch bleiben bis zu unseren Kulturnachrichten, doch noch mal zur Therapie kommen. Der lange Untertitel Ihres Buches lautet ja: "Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen". Und wie tun wir das?

Schirrmacher: Also die besten Beispiele, um sich das klarzumachen, sind hier wirklich, weil sie am schlagkräftigsten sind, die aus der Medizin. Man hat gesehen, die totale Computerisierung der Medizin hat dazu geführt, dass eben Diagnosen abgegeben werden, die tatsächlich sozusagen statistisch richtig sind, aber für das Individuum nicht richtig sind. Und dann haben – die Amerikaner sind da doch sehr weit – amerikanische Psychologen das zum Anlass genommen, mal zu zeigen, wie kann man es machen, und zwei Gruppen gebildet. Die eine hatte halt nur diese computerisierte Information, die die Ärzte ja heutzutage auch gerne weitergeben, und die andere hatte etwas ganz anderes, nämlich individualisierte Information. Das heißt, der Mensch wurde in den Mittelpunkt gestellt.

Natürlich laufen im Hintergrund immer noch irgendwelche Hilfsmittel von Rechnern, aber es wurde sehr stark auf das Individuum abgestellt. Die Ergebnisse waren: Wenn Sie Perspektivwechsel einüben, wenn Sie sozusagen von der Unverwechselbarkeit dieses Individuums ausgehen, waren die medizinischen Erfolge sehr viel größer als bei der anderen Gruppe. Das heißt, Sie können noch so viel Informationen haben aus diesen Computer- und Internetwelten, im entscheidenden Fall zählen sie nicht.

Und das ist jetzt nur ein Weg, der aus der Medizin kommt, das Gleiche gibt es aus der Bildung und aus vielen anderen Bereichen. Ich sage ja auch, das muss gestärkt werden. Wir wollen als Menschen sozusagen bewertet werden, von dem man nicht weiß, was sie in der nächsten Minute tun. Amazon weiß, welches Buch ich mir in der nächsten Minute bestellen will, aber das möchte ich nicht gern in meinem Leben haben.

Führer: Und was heißt das praktisch für Ihr Leben?

Schirrmacher: Ja, das heißt, dass man tatsächlich durchschaut, dass diese Systeme nicht die letzte Wahrheit sind und dass man sich auch von ihm abkoppeln kann in Entscheidungen, die man in seinem eigenen Leben führt. Also es ist nicht so, dass jetzt, im Navigationssystem finde ich den Ort, aber der Weg dorthin, auch der Weg des Denkens muss gestärkt werden. Dafür gibt es Supermethoden. Es gibt hier in Berlin einen tollen – Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung –, der bringt einem das regelrecht bei, wie man wieder anfängt, denken zu lernen und Bauchgefühle zu entwickeln, also mehr auf die Intuition bauen als auf die Berechnung.

Führer: Herr Schirrmacher, ganz kurz zum Schluss noch: Ich fand das ja süß, 240 Seiten über das Informationszeitalter und das Internet, ja, auf 240 Seiten eben geklebt zwischen zwei Buchdeckel auf dem guten alten Papier.

Schirrmacher: Ja, und das schreibe ich ja am Ende. Das Papier hat eine Zukunft, weil es eigentlich das einzige Lesemedium ist heutzutage, das nicht ständig überwacht wird von irgendwelcher Software, wo man tatsächlich ganz mit sich alleine sein kann, ohne ständig gestört zu werden. Und darum glaube ich auch – ich finde es auch süß, aber ich finde es auch total human – Papier wird eine Zukunft haben, nämlich in einer Gesellschaft, in der Kontemplation viel wichtiger werden wird als in der Vergangenheit.

Führer: Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der "FAZ" und Autor des soeben bei Blessing erschienenen Buches "Payback".