Schlacht um Stalingrad
Wassili Grossmann schildert in seinem Roman "Leben und Schicksal" die Schlacht um Stalingrad und weitet sich dabei zum Panorama der besetzten Sowjetunion. Nun liegt eine Hörspielfassung des Romans vor.
"Spät in der Nacht legte sich General Krylow in seinem Unterstand aufs Feldbett. Im Traum behielt der Krieg weiter seine Macht. Er hörte laute Schreie. Er öffnete die Augen. An der aufgerissenen Tür des Unterstands vorbei wälzte sich ein Flammenstrom zur Wolga. Plötzlich hatte er begriffen: Die Deutschen hatten die Öltanks in Brand gesteckt. Das brennende Öl strömte zur Wolga. Die Wolga brannte."
Vom Kriegsschauplatz Stalingrad wechselt der Roman ins Hinterland, beschreibt das Moskauer Leben, um sich dann dem mörderischen Alltag in Ghetto, Konzentrationslager und GULag zu widmen. Da Wassili Grossman nicht länger zwischen einer guten und einer schlechten Diktatur unterscheiden wollte, sondern die Ähnlichkeiten der im Kampf verbissenen totalitären Systeme herausstellte, verstieß er gegen das größte sowjetische Tabu. Und scheute auch nicht vor anderen Unsagbarkeiten zurück wie dem Schreckensjahr 1937, der Erneuerung des Terrors im Zeichen der Kriegswende, dem Antisemitismus.
Zu den Hautfiguren gehört der Kernphysiker Strum (passioniert gespielt von Andreas Grothgar), ein russischer Einstein, der unter Kollegen kritische Worte riskiert, aber auch die staatliche Anerkennung sucht. Der Stalinpreis wird ihm jedoch verweigert; seine Atomtheorie sei "unmarxistisch" und vom "Geist des Judaismus" infiziert. Strum wird gedrängt, rituelle Selbstkritik zu üben. Der demütigste und erhabenste Moment seines Lebens kündigt sich mit dem Klingeln des Telefons an. Eine erzväterliche Reibeisenstimme meldet sich zu Wort.
"’Guten Tag, Genosse Strum’
In diesen Sekunden fühlte Strum mit jeder Faser seines Körpers, dass sich sein Schicksal erfüllte.
‚Guten Tag, Jossif Wissarionowitsch.’
Er konnte kaum glauben, dass er, Strum, diese unvorstellbaren Worte in die Muschel sprach.
‚Mir scheint, Sie arbeiten in einer interessanten Richtung.’"
Stalin interessiert sich sehr für die Forschungen des Genossen Strum. Es ist die große Rehabilitierung. Der in den Bann geschlagene Freigeist kann es kaum fassen: Handelt es sich wirklich nicht um einen Stimmenimitator? Aber nein, wer würde so etwas wagen, dafür gäbe es zehn Jahre Gefängnis, mindestens.
"Leben und Schicksal" beschäftigt sich mit diversen Formen des Verrats und der Selbstverleugnung. Noch die Männer im GULag glauben an "Väterchen" Stalin und halten ihr persönliches Schicksal für unglücklichen "Zufall".
Verluste sind unvermeidlich, wenn dieser Jahrhundert-Roman auf fünfeinhalb Hörspiel-Stunden komprimiert wird. Von aufwendig beschriebenen Figuren bleiben oft nur ein paar Ergebnissätze. Dafür bekommt man mit der Bearbeitung von Helmut Peschina aber wirklich ein Konzentrat, das diese Bezeichnung verdient. Unter der Regie von Norbert Schaeffer agiert ein vorzügliches Sprecher-Ensemble; das Verzeichnis zählt allein 50 Hauptrollen auf. Das bedeutet für den Hörer erst einmal eine gewisse Überforderung, zumal der kommentierende Erzähler – sehr sonor: Jürgen Hentsch – zurückhaltend eingesetzt wird.
Das Schwergewicht liegt auf der authentischen Szene mit zumeist realistischen Klangkulissen. Da rumpeln die Geschütze, da heulen die Geschosse, dann wieder pfeift der eisige russische Wind, plätschert das Wasser der Wolga. Bisweilen legen sich schwermütige Streicher- oder Harmonikatöne unter die Dialoge. Bahngleise waren die Adern des SS-Organismus, und so hört man in den Lagerszenen immer wieder die Geräusche von Zügen:
""Unter den Millionen russischer Bauernhütten gibt es nicht zwei Hütten, die einander völlig gleichen. Es kann sie auch nicht geben. Alles Lebendige ist einmalig. Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen …"
An Tolstois Epochenpanorama "Krieg und Frieden" erinnert "Leben und Schicksal" schon dadurch, dass zwei miteinander verbundene Familien in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Freiräume des Privaten sind allerdings eng geworden. Auch ist Grossmans Erzählhaltung eine andere.
Er war mittendrin in den Geschehnissen, als von den Truppen hoch verehrter Kriegsreporter, während Tolstoi aus historischer Distanz schrieb – aus einer souveränen Erzählerposition, die auch Voraussetzung seiner knorrigen Polemik über die geschichtemachenden Männer war. Grossman beschreibt eine dunklere Epoche, aber er bewahrt sich den teilnehmenden Ton eines Menschenfreunds:
"Ich habe das große Leiden der Bauern gesehen. Die Kollektivierung aber wurde im Namen des Guten durchgeführt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte."
"Leben und Schicksal" ist ein ungewöhnlich nachhaltiges Hörspiel, das sich in seinen Feinheiten und in seiner verzweigten Handlung allerdings erst bei mehrfachem Hören erschließt. Es ist ein großes Werk des Leidens und des Mitleids, des historischen Horrors und der unverhofften Güte.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Wassili Grossman: Leben und Schicksal. Romanhörspiel. Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke
Produktion: NDR, Bearbeitung: Helmut Peschina, Regie: Norbert Schaeffer. Der Hörverlag, München 2009, 4 CDs, 327 Min., 29,95 Euro
Vom Kriegsschauplatz Stalingrad wechselt der Roman ins Hinterland, beschreibt das Moskauer Leben, um sich dann dem mörderischen Alltag in Ghetto, Konzentrationslager und GULag zu widmen. Da Wassili Grossman nicht länger zwischen einer guten und einer schlechten Diktatur unterscheiden wollte, sondern die Ähnlichkeiten der im Kampf verbissenen totalitären Systeme herausstellte, verstieß er gegen das größte sowjetische Tabu. Und scheute auch nicht vor anderen Unsagbarkeiten zurück wie dem Schreckensjahr 1937, der Erneuerung des Terrors im Zeichen der Kriegswende, dem Antisemitismus.
Zu den Hautfiguren gehört der Kernphysiker Strum (passioniert gespielt von Andreas Grothgar), ein russischer Einstein, der unter Kollegen kritische Worte riskiert, aber auch die staatliche Anerkennung sucht. Der Stalinpreis wird ihm jedoch verweigert; seine Atomtheorie sei "unmarxistisch" und vom "Geist des Judaismus" infiziert. Strum wird gedrängt, rituelle Selbstkritik zu üben. Der demütigste und erhabenste Moment seines Lebens kündigt sich mit dem Klingeln des Telefons an. Eine erzväterliche Reibeisenstimme meldet sich zu Wort.
"’Guten Tag, Genosse Strum’
In diesen Sekunden fühlte Strum mit jeder Faser seines Körpers, dass sich sein Schicksal erfüllte.
‚Guten Tag, Jossif Wissarionowitsch.’
Er konnte kaum glauben, dass er, Strum, diese unvorstellbaren Worte in die Muschel sprach.
‚Mir scheint, Sie arbeiten in einer interessanten Richtung.’"
Stalin interessiert sich sehr für die Forschungen des Genossen Strum. Es ist die große Rehabilitierung. Der in den Bann geschlagene Freigeist kann es kaum fassen: Handelt es sich wirklich nicht um einen Stimmenimitator? Aber nein, wer würde so etwas wagen, dafür gäbe es zehn Jahre Gefängnis, mindestens.
"Leben und Schicksal" beschäftigt sich mit diversen Formen des Verrats und der Selbstverleugnung. Noch die Männer im GULag glauben an "Väterchen" Stalin und halten ihr persönliches Schicksal für unglücklichen "Zufall".
Verluste sind unvermeidlich, wenn dieser Jahrhundert-Roman auf fünfeinhalb Hörspiel-Stunden komprimiert wird. Von aufwendig beschriebenen Figuren bleiben oft nur ein paar Ergebnissätze. Dafür bekommt man mit der Bearbeitung von Helmut Peschina aber wirklich ein Konzentrat, das diese Bezeichnung verdient. Unter der Regie von Norbert Schaeffer agiert ein vorzügliches Sprecher-Ensemble; das Verzeichnis zählt allein 50 Hauptrollen auf. Das bedeutet für den Hörer erst einmal eine gewisse Überforderung, zumal der kommentierende Erzähler – sehr sonor: Jürgen Hentsch – zurückhaltend eingesetzt wird.
Das Schwergewicht liegt auf der authentischen Szene mit zumeist realistischen Klangkulissen. Da rumpeln die Geschütze, da heulen die Geschosse, dann wieder pfeift der eisige russische Wind, plätschert das Wasser der Wolga. Bisweilen legen sich schwermütige Streicher- oder Harmonikatöne unter die Dialoge. Bahngleise waren die Adern des SS-Organismus, und so hört man in den Lagerszenen immer wieder die Geräusche von Zügen:
""Unter den Millionen russischer Bauernhütten gibt es nicht zwei Hütten, die einander völlig gleichen. Es kann sie auch nicht geben. Alles Lebendige ist einmalig. Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen …"
An Tolstois Epochenpanorama "Krieg und Frieden" erinnert "Leben und Schicksal" schon dadurch, dass zwei miteinander verbundene Familien in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Freiräume des Privaten sind allerdings eng geworden. Auch ist Grossmans Erzählhaltung eine andere.
Er war mittendrin in den Geschehnissen, als von den Truppen hoch verehrter Kriegsreporter, während Tolstoi aus historischer Distanz schrieb – aus einer souveränen Erzählerposition, die auch Voraussetzung seiner knorrigen Polemik über die geschichtemachenden Männer war. Grossman beschreibt eine dunklere Epoche, aber er bewahrt sich den teilnehmenden Ton eines Menschenfreunds:
"Ich habe das große Leiden der Bauern gesehen. Die Kollektivierung aber wurde im Namen des Guten durchgeführt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte."
"Leben und Schicksal" ist ein ungewöhnlich nachhaltiges Hörspiel, das sich in seinen Feinheiten und in seiner verzweigten Handlung allerdings erst bei mehrfachem Hören erschließt. Es ist ein großes Werk des Leidens und des Mitleids, des historischen Horrors und der unverhofften Güte.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Wassili Grossman: Leben und Schicksal. Romanhörspiel. Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke
Produktion: NDR, Bearbeitung: Helmut Peschina, Regie: Norbert Schaeffer. Der Hörverlag, München 2009, 4 CDs, 327 Min., 29,95 Euro