Kommentar

Ein Lob auf den Schlaf

04:26 Minuten
Eine ältere Frau schläft auf einer Sitzbank.
Erfrischt manchmal ungemein: das Nickerchen. © picture alliance / imageBROKER / Siegfried Kuttig
Ein Kommentar von Gesine Palmer |
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Ob Durcharbeiten oder Durchfeiern: Manch einer brüstet sich, wenn er mit wenig Schlaf auskommt. Doch ein Schlafdefizit kann auf Dauer gefährlich werden. Und schon Shakespeare wusste, der Schlaf ist „Balsam wunder Seelen, Hauptspeisung der Natur“.
Schlechter Schlaf beeinflusst unser Handeln mehr, als wir es oft wahrhaben wollen. „Ich hatte eine schlechte Nacht“. Mit diesen Worten erklärte US-Präsident Joe Biden Ende Juni seinen schlechten Auftritt, als er in einer TV-Debatte mit seinem Konkurrenten Donald Trump einen verwirrten Eindruck machte. Die Philosophin Gesine Palmer findet es fahrlässig, den Schlaf als notwendiges Übel abzutun. Sie meint: Guter Schlaf ist die Grundlage für ein besseres Leben.
„Schlaf wird überschätzt.“ Als dieser Satz des Bundeskanzlers über das Deutschlandradio versendet wurde, hatte das Kabinett in einer nächtlichen Gewaltsitzung endlich einen Haushalt verabschiedet. Der Satz klang ein bisschen trotzig, fast patzig. Denn natürlich weiß auch Olaf Scholz als gebildeter Mensch, was medizinisch nicht mehr umstritten ist: Schlafentzug taugt nicht nur autoritären Regimen von jeher als Foltermethode – er ist auch auf lange Sicht gefährlich. 

Falscher Stolz aufs Durchmachen

Dennoch sind viele Menschen stolz darauf, wenn sie Nächte durcharbeiten – oder durchfeiern. Ich erinnere mich, als Studentin für ein paar Wochen als Gehilfin in einer Bäckerei gearbeitet zu haben: Arbeitsbeginn war drei oder vier Uhr morgens. Irgendwie habe ich es geschafft, fast jede zweite Nacht mit Freundinnen und Freunden durchzupalavern, bis ich zur Arbeit musste – und dann eben nach Feierabend erst mal ein paar Stunden zu schlafen.
Gott sei Dank geht das für eine Zeit. Was würde sonst aus all den Menschen werden, die in Nachtschichten für andere arbeiten müssen, aus all denen, die nachts wachen, damit andere schlafen können, aus den jungen Müttern, die von ihren Säuglingen jede Nacht mehrfach geweckt werden?
Mit den Müttern habe ich vielleicht schon einen Schmerzpunkt benannt: Von den Indigenen Südamerikas las ich vor Jahren, wie ein Mann einem europäischen Ethnologen gegenüber die kriegerische Kultur seines Stammes rechtfertigte: Die Frauen würden in Geburt und Versorgung der Kinder Gesundheit, Leib und Leben riskieren für die Gemeinschaft. Um selbst etwas Achtung zu verdienen, müssten auch Männer einer Tätigkeit nachgehen, bei der Gesundheit, Leib und Leben auf dem Spiel stünden.

Ausdruck primitiver Gesundheitsprotzerei

Die schlichte Direktheit dieser Aussage erscheint mir durchaus universell. Irgendwas wird wohl kompensiert werden müssen, wenn man stolz darauf ist, sich und anderen Gewalt anzutun. Es ist vielleicht nur eine vergleichsweise milde Form, aber wenn Donald Trump seinen Rivalen Joe Biden als „Sleepy Joe“ verhöhnte, war das einerseits Ausdruck primitiver Gesundheitsprotzerei.
Andererseits appellierte er damit an eine Arbeitsethik, in der eben wirklich nur derjenige Achtung genießt, der körperlich imstande ist, mit vergleichsweise wenig Schlaf auszukommen und bereit, alle dadurch gewonnene Zeit für diese oder jene große Sache einzusetzen. Diese Arbeitsethik ist beiden Parteien gemeinsam. Warum?

Ärztliche Nachtdienste oft unverantwortlich lang

Der Wettkampf des Schneller-Weiter-Höher gehört wohl zur menschlichen Natur. Irgendein Gen wird uns immer dazu treiben, das größte, schönste, leistungsstärkste Exemplar unserer Spezies zu bewundern – und mit ein bisschen Quälerei zu weiteren Leistungen zu triezen. Shakespeares Macbeth beruft, von Schlaflosigkeit gequält, den Schlaf als „Balsam wunder Seelen, Hauptspeisung der Natur.“ Könnte solch Lob des Schlafes nicht die Basis für eine neue Arbeitsethik werden?
Die nächtlichen Schlafstörungen, die Säuglinge ihren Eltern antun, werden wir nicht abschaffen können; die Notwendigkeit von Nachtwachen in Krankenhäusern, Feuerwehren, Polizeistationen und – leider – militärischen Kontexten werden wir nicht so schnell beseitigen können. Aber wir können die daraus folgenden Belastungen intelligenter und maßvoller verteilen. Die ärztlichen Nachtdienste sind in vielen Krankenhäusern immer noch unverantwortlich lang. Die nächtlichen Verhandlungsmarathons der Politik sind nicht nur idiotisch – sie verlagern die Durchsetzungskraft vom Vernünftigsten auf den Vitalsten und bedeuten insofern einen kulturellen Rückschritt.
Eine moderne, mit den Erkenntnissen der Forschung kompatible Arbeitsethik wird von einem Menschen, der mit seinem Schlafbedürfnis verantwortlich umgeht, mehr erwarten als von jemandem, der stolz darauf ist, sich in dieser Frage Gewalt anzutun. Und die Mütter? Die schütteln eh den Kopf über Leute, die ohne Not auf Schlaf verzichten.

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

Porträtaufnahme der Religionsphilosophin Gesine Palmer
© Gaëlle de Radiguès
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