Schlafen unter dem Altar

Von Axel Schröder |
Seit Wochen versucht eine Gruppe von rund 300 Flüchtlingen aus Libyen, auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Um ihre Not zu lindern, machte die St.-Pauli-Gemeinde ihr Kirchenschiff zum Schlafsaal. Dort steht nun morgens neben dem Altar ein Frühstücksbuffet.
Vor dem schlichten Holzaltar liegen Matratzen. Ein junger Mann zieht sich die karierte Bettdecke über die Ohren, dreht sich auf die Seite. Morgens um acht sind die meisten Flüchtlinge schon auf den Beinen, ein paar von ihnen sitzen noch stumm auf den Matten, verteilt an den Außenwänden des Kirchenschiffs. In der Mitte stehen Tische und Bänke, Platz zum Frühstücken. Mittendrin Pastor Sieghard Wilm. Weißes Hemd, am Revers des grauen Anzugs ein kleines Kreuz als Anstecker:

"Die erste Nacht war hier vom 2. auf den 3. Juni. Es waren am Anfang 30, dann wurden es mehr und mehr. Dann haben wir gesagt: Mensch, 70 gehen ... oder 80. 80 ist Maximum. Aber in manchen Nächten waren es eben mehr. Das ist gar nicht so einfach, das dann umzuorganisieren. Aber wir haben ja mittlerweile auch andere Kirchen und Moscheen. Deswegen müssen wir - wenn wir Leute abweisen - sie nicht wieder auf die Straße schicken, sondern woanders hin."

Gleich neben dem Altar steht das Frühstücksbuffet: zusammengeschobene Tische, eine Kiste mit Brötchen, gefüllte Kaffekannen, Marmeladen, Plastikgeschirr, Plastikbecher, Backbleche.

"Das sind alles Spenden. Dieser Kuchen, der hier heute ausgegeben wird, der ist von einer Nachbarin. Das ist alles zu Hause gebacken, da kommen Leute mit so einem ganzen Backblech vorbei. Das ist natürlich total rührend. Das Brot ist von einer Bäckerei gespendet. Das sind alles so Sachen, die vorbei gebracht werden. Das heißt aber: wir wissen nicht sicher, was wir am nächsten Tag haben werden. Das ist ein bisschen immer auch eine Wackelpartie."

Bis Mitte April waren die Flüchtlinge im Winternotprogramm der Stadt untergekommen. Seitdem mussten sie bei Nässe und Kälte draußen schlafen. Unter Brücken, in Hauseingängen. Stadt und Kirche suchten nach festen Unterkünften, zuletzt bot der Senat eine leer stehende Schule zum Übernachten an. Vorher sollten sich alle Flüchtlinge registrieren lassen, ihre Abschiebung zügig betrieben werden. Die Kirche lehnte ab. - Jetzt können die 80 Männer in der St.-Pauli-Kirche schlafen.

80.000 Libyer hat der Krieg nach Europa getrieben
Die ersten Flüchtlinge packen ihre Decken zusammen, schleppen die Matratzen in einen Abstellraum. Draußen fegen sie den rot gepflasterten Kirchhof sauber. Ein Sprecher der Flüchtlinge steht auf den Steinstufen vor dem Portal. Andreas heißt er, möchte seinen Nachnamen nicht nennen:

"Es ist viel besser als auf der Straße! Auch wenn wir ziemlich viele hier sind. Aber es ist okay! Wir lebten auf der Straße, ohne Obdach, ohne Dusche, ohne Waschmaschine. Jetzt haben wir das alles und ich fühle mich gut aufgehoben!"

Andreas stammt aus Ghana, vor sechs Jahren zieht er nach Libyen. Findet Arbeit auf dem Bau. Als der Aufstand gegen Muammar al Gaddhafi beginnt, flieht er über das Mittelmeer nach Italien. Und lebt anfangs in den überfüllten Flüchtlingslagern auf der kleinen Insel Lampedusa. 80.000 Libyer hat der Krieg nach Europa getrieben, vor allem nach Italien.

Die dortigen Behörden drückten Andreas und den meisten anderen der 300 Hamburger Flüchtlinge 500 Euro in die Hand. Sie bekommen ein sogenanntes Schengen-Visum und dürfen sich damit in anderen EU-Staaten drei Monate lang aufhalten. Die sind bald vorbei. Und ihre Arbeitserlaubnis gilt nur in Italien. Das ärgert Andreas, genauso wie die Vorurteile gegenüber der Gruppe:

"Wir sind keine Rebellen, wir sind keine Kriminellen. Wir wollen hier arbeiten, wir wollen uns integrieren und wir wollen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen!"

Auch Andreas greift sich einen Besen, hilft mit. Im Kirchenschiff sind fast alle Matratzen weggeräumt. Tagsüber sind die Männer draußen unterwegs. Oder sitzen zusammen im großen Zelt im Kirchgarten, diskutieren und bringen sich gegenseitig und mit der Hilfe von Nachbarn die ersten Brocken Deutsch bei.

Solidarität aus der Nachbarschaft
Pastor Wilm steht in der kleinen Teeküche, links neben dem Altar. Schmutziges Geschirr wird in die Spülmaschine sortiert. Die Solidarität in der Nachbarschaft macht ihm Mut. Wilm erzählt: Jeden Tag kommen ein, zwei Dutzend Menschen vorbei, bieten Hilfe an. Das tröstet über die Ausfälle hinweg, die der Pastor sich anhören muss:

"Es gibt rassistische Anrufe. Das ist leider so. In solchen Situationen muss man damit rechnen. Dass es rassistische Anrufe gibt, Pöbeleien, Beschimpfungen. Oder der Vorwurf, wir sollten uns doch um unsere St. Pauli-Schäfchen kümmern und nicht um die Afrikaner. Dazu kann ich nur sagen: Als Kirchengemeinde sind wir für alle da!"

Wilm geht raus aus der Küche, rein ins Kirchenschiff. Neben dem Altar kniet ein junger Afrikaner auf einem dünnen Tuch, betet in Richtung Mekka. Nach und nach verlassen die Männer die Kirche. Der Pastor wünscht sich eine klare Ansage von den Hamburger Behörden:

"Nur was ist jetzt die Konsequenz? Da möchte ich doch einmal wissen, was die Innenbehörde jetzt tun möchte! Also ganz konkret tun möchte. Da wir hier 80 dieser Gäste hier haben bei uns, haben wir natürlich ein ganz, ganz lebhaftes Interesse zu wissen: Wie geht es weiter? Wird die Polizei hier bald vor der Tür stehen und die Menschen abgreifen?"

Wilm zieht die Brauen hoch, etwas ratlos. Aus der Innenbehörde heißt es: Es besteht kein Grund zur Eile. Die Kirche ist ein geschützter Raum, den die Polizei nicht verletzen wird. Und hinter den Kulissen laufen nach wie vor Gespräche zwischen Innen- und Sozialbehörde und der Kirchenleitung. Das Kirchenschiff ist jetzt leer. Aufgeräumt und sauber gefegt.

"Es findet hier genauso die Hochzeit statt am Samstag. Und am Sonntag der Gottesdienst und die Taufe. All das findet weiter statt. Für all das ist weiterhin Raum."

Müde sieht er aus, der Pastor. Mit dunklen Augenringen nach elf Tagen Ausnahmezustand. Die Flüchtlinge kommen in seiner Kirche zur Ruhe, er selbst vorerst nicht.
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