Schlagfertiger Netzprotest

Sie haben Sony angegriffen, Visa und ein amerikanisches Drogenkartell: Die "Anonymous"-Aktivisten hacken sich in die Systeme von Unternehmen und beteiligen sich an Protesten gegen den Turbo-Kapitalismus. Drei "Spiegel"-Reporter haben jetzt ein Buch über die Ziele der Bewegung geschrieben.
"Anonymous" ist eine Ad-hoc-Assoziation, eine machtvolle, völlig neue Organisationsform, die nur im Internet geboren werden konnte. Befreit von den räumlichen Restriktionen der Kohlenstoffwelt können sich über Twitter, Facebook, Foren und Chats Tausende absprechen, zusammentun und handeln: Webserver von PayPal und Mastercard lahmlegen, 100 Millionen Kundendaten von Sony klauen oder massenhaft Pizzen an ihre Feinde liefern lassen. Stunden nach der Aktion ist der Aktivistenschwarm aufgelöst und wartet auf den nächsten Anlass.

Die Motive der "Anons" haben sich seit ihrer Entstehung gewandelt und ausdifferenziert. Anfangs ging es der digitalen Spaß-Guerillia allein um Spaß, um "Lulz", abgeleitet vom Netzakronym lol: laughing out loud. Erste politische Motive manifestierten sich im Kampf gegen Scientology.

Die Sekte hatte versucht, interne Videos, die bei Youtube aufgetaucht waren, entfernen zu lassen - in den Augen vieler "Anons" ein Fall von Zensur, der die Netzaktivisten erstmals auf die Straßen trieb und ein Thema setzte, das noch heute den Kitt bildet, der die globale Ad-hoc-Truppe zusammenhält: "Das Einzige, was all die womöglich Hunderttausende Sympathisanten der Marke "Anonymous" verbindet", schreiben die "Spiegel Online"-Reporter Ole Reissmann, Christian Stöcker und Konrad Lischka in ihrem Buch "We are Anonymous", "sind die Zeichen, die Symbole, die Sprache, die Witze, das diffuse Gefühl der Verbundenheit, das Ideal eines freien, unreglementierten Internets und der uneingeschränkt freien Rede."

Mit dem starken Zulauf bekam die amorphe Truppe weitere Gesichter: Hilfe für die iranischen Revolutionäre, Enttarnung geheimer Überwachungsprogramme, logistische Unterstützung der Occupy-Bewegung: "Anonymous ist eine globale Protestmaske, die sich jeder überstreifen kann, der irgendwo gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Korruption kämpft."

Die Stärke des vorliegenden Buchs ist seine Erkundung von "4Chan", einem anarchischen Forum, wo jeder alles veröffentlichen kann - Nutzername stets: "Anonymous". Anschaulich beschreiben die Autoren, wie aus der hier blubbernden schamlosen Mischung aus Rassismus, Schwulenfeindlichkeit, Kreativität und Originalität "Anonymous" hervorgegangen ist; wie die Vandalen sich hier zu ihren ersten Streifzügen durchs Netz verabredeten; wie sie hier auf ihr Markenzeichen stießen, die Grinsemaske aus einem Comic über den katholischen Terroristen Guy Fawkes.

Dramaturgische Schwächen hat das Buch, wenn es chronologisch Aktion nach Aktion beschreibt und viele bereits veröffentlichte Fakten zusammenfasst. Doch das gehört zu einem aktuellen Überblickswerk. Das Taschenbuch ist schnell geschrieben, entstanden im November 2011, aber wie ein Schnellschuss liest es sich nicht: Die Autoren sprechen mit einer Handvoll "Anonymous"-Aktivisten, rekonstruieren, wer den Kern von "Anonymous" ausmachen könnte: hauptsächlich Männer, zwölf bis 60 Jahre, Angestellte, Hacker, Landschaftsgärtner.

Sie alle nutzen die Möglichkeiten der niederschwelligen Ad-hoc-Assoziation des Netzprotests: Jeder kann mitmachen und eine Sekunde später für immer abtauchen.

Besprochen von Philip Banse

Ole Reissmann, Christian Stöcker, Konrad Lischka: We are Anonymous. Die Maske des Protests - Wer sie sind, was sie antreibt, was sie wollen
Goldmann Verlag, München 2012
251 Seiten, 8,99 Euro

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