Schlecht lektoriert

Eine Biografie über Therese Giehse hätte einiges zu erzählen, schließlich war die großartige Schauspielerin auch Mitglied des berühmten Kabaretts "Die Pfeffermühle" sowie Brecht-Fürsprecherin und - Interpretin. Zudem gibt ihr Tagebuch noch heute Rätsel auf. Renate Schmidt aber vergibt die Chance und schreibt eher einen 400 Seiten langen Eintrag ins Poesiealbum, ohne jede Recherchearbeit, erfindet Zusammenhänge und füllt ganze Absätze mit Plattitüden.
Was hätte das für eine aufregende Kultur-Geschichte werden können: die Geschichte über Therese Giehse, geboren als Therese Gift in jüdischer Familie, 1898 in München, gestorben ebenda im März 1975, drei Tage vor dem 77. Geburtstag; in der Zwischenzeit – und auf den unterschiedlichsten Bühnen der Vor-, der Kriegs- und Nachkriegszeit - eine der bemerkenswertesten Theaterschauspielerin des vergangenen Jahrhunderts; wiederentdeckenswert allemal und unbedingt für ein Publikum, das heute womöglich schon nichts mehr von ihr weiß. Oder doch fast nichts.

Wer (wie zum Beispiel ich) vor gut dreieinhalb Jahrzehnten das Theater kennen- und liebenlernt, der hört nur noch von der "großen Toten" – 1970 hat sie der jungen, neuen "Schaubühne" in Berlin und dem Regie-Kollektiv um (den ebenfalls noch jungen und wilden) Peter Stein den ersten wirklich großen Erfolg beschert: als sie "Die Mutter" spielt in Bert Brechts ziemlich agitatorischem Stück nach dem Roman von Maxim Gorki.

Erstaunlich übrigens, und nebenbei bemerkt, dass es schon damals die Brecht-Erben hinter der Mauer waren, die Steins und Giehses neuen Umgang mit dem Stück so gern verhindert hätten. Und das, obwohl kaum eine Schauspielerin dem echten Brecht näher war als gerade Therese Giehse, die als "Kon-Courage" mit Brechts Frau Helene Weigel Ende der Vierzigerjahre die ersten Interpretationen der "Mutter Courage" in Inszenierungen des Dichters selber spielte. Das ist Giehses zweites historisches Verdienst: direkt wie kaum jemand sonst (vielleicht noch der Frankfurter Intendant Harry Buckwitz) an der Neu-Entdeckung Brechts auch im Westen beteiligt gewesen zu sein.

Kein Wunder – sie hatte Brecht in der Emigration, auf der Flucht vor den Nazis kennengelernt; logischerweise war sie eine seiner wichtigen Fürsprecherinnen und Protagonistinnen danach. Und schließlich ist Therese Giehse die zentrale Persönlichkeit, einer der großen Lautsprecherinnen des "anderen Deutschlands" in Zeiten des Faschismus – sie ist neben der mal mehr, mal weniger glücklich geliebten, verehrten und begehrten Erika Mann der darstellerische Kern und Trumpf im Kabarett "Die Pfeffermühle", das in München zu spielen beginnt (ulkigerweise während direkt nebenan Adolf Hitler hetzt und agitiert gegen "Leute wie die"!); das dann (wie die Giehse selber und Erika Mann samt all den anderen, viel berühmteren Mitgliedern der Familie Mann) nach Zürich ins Exil geht, dann weiter nach Amsterdam, nach Prag, wo auch immer die Stimme des antifaschistischen Deutschland noch etwas gilt, schließlich sogar nach Amerika.

Die Geschichte dieses einzigartigen Kabaretts, Vorbild für manche Nachkriegsgründung (wie etwa das "Kom(m)ödchen" in Düsseldorf), gab schon Stoff für ganze Bücher her; die Geschichte der Familie Mann und ihrer ungezählten, meist höchst komplizierten Verbindungen nach außen erst recht. Gut geschriebene, sorgfältig recherchiert und inhaltlich ordentlich sortierte Bücher sind das.

Renate Schmidts Biografie über Therese Giehse aber ist all das nicht. Und ein ärgerlicheres Theaterbuch kam nicht mehr auf den Markt seit der Autobiografie des Alt-Berliner Schillertheater-Patriarchen Boleslaw Barlog. Der hatte es fertig gebracht, all die Jahre seiner nicht enden wollenden Intendanz Revue passieren zu lassen, indem er alle Stücke pro Saison quasi archivarisch herunter betete; immer mit der Schlussbemerkung, es sei ein sehr schöner Erfolg gewesen.

Renate Schmidt ist ähnlich vorgegangen – und hat schon deshalb alle Chancen eines wirklich guten Theaterbuches verschenkt, verspielt, vertan. Ein derart unordentlich gearbeitetes Buch jedenfalls kommt einem selten in die Hand.

Woran das liegt? Sicher auch daran, dass Renate Schmidt, gelernte Schauspielerin von eher überschaubarem Ruhm, eher per Zufall an die Verwaltung des Giehse-Nachlasses geraten ist. Sie erzählt freimütig davon zu Beginn – dass nach dem frühem Selbstmord der Schriftstellerin Monika Sperr (die vor 35 Jahren ein hervorragendes Giehse-Buch unter dem Motto "Ich hab’ nix zum Sagen!" vorgelegt hatte) das Giehse-Erbe brachlag.

Schmidt ihrerseits hatte die Giehse Anfang der Siebzigerjahre noch selber kennengelernt und immer schon verehrt. Anfang der Neunzigerjahre gestaltete sie eine Bühnen-Hommage für die Giehse, und eines Abends machte ihr eine Zuschauerin die Offerte, nun auch den brachliegenden Giehse-Nachlass zu verwalten. Das tut sie nun seit zwölf Jahren.

Aber sie ist dabei vor allem Verehrerin geblieben. Und so schreibt sie auch – dieses Buch ist ein 400 Seiten langer Eintrag ins Poesiealbum; sogar mit gelegentlicher Anrede "Liebe Therese". Die Fakten- und Aktenlage dagegen ist dünn – weil ja schon Giehse selbst nur wenig Fakten hinterließ. Aber Schmidt weiß sie auch nicht zu deuten – was etwa kann wohl dahinter stecken, wenn die Giehse all die vielen geliebten Toten am Rande ihres Lebensweges, Freunde und Liebhaberinnen, im Moment des Sterbens im Tagebuch nur mit Namen und Kreuz dahinter einträgt, ja geradezu abhakt? Und dass trotz großer Zuneigungen lebenslang – Schmidt fragt sich das nicht, sie reflektiert generell nie.

Dafür erfindet sie Zusammenhänge. Zum Beispiel schreibt Maxim Gorki an eine russische Schauspielerin wesentliche Worte über sein Stück "Wassa Schelesnowa" – und Schmidt tut lange so, als sei dies ein Gorki-Kommentar über die Giehse! Ganze Absätze sind mit Plattitüden gefüllt wie "Am Sylvesterabend schaute sie bestimmt auf die vielen Begegnungen dieses arbeitsreichen Jahres zurück." Na Donnerwetter!

Und im ersten "Berliner Ensemble", noch in den Kammerspielen von Wolfgang Langhoffs Deutschem Theater beheimatet, wird Giehse damit kurzzeitig und unvermeidlicherweise an der Schumannstraße heimisch – irgendwann früher hatte sie in München auch mal in der Schumannstraße gewohnt. Da hat das Schicksal aber gewaltet!

So viel Quatsch mit Soße, auf jeder Seite – und kein Lektor weit und breit, der Frau Schmidt Einhalt geboten hätte. Sie hat aus dem eh schon karg mit Aufzeichnungen versehenen Tagebuch der Schauspielerin Giehse ein Buch zu machen versucht – und besser, es hätte ihr zuvor jemand klar gemacht, dass das nicht geht.

Bleiben die zehn Prozent dieses schwachen Schmökers, die authentischen Materialien in Text und Bild vorbehalten sind. Der Rest kann überblättert werden.

Rezensiert von Michael Laages

Renate Schmidt: Therese Giehse – Na dann wollen wir den Herrschaften mal was bieten
Verlag Langen Müller
400 Seiten, 19,90 Euro