Big Business mit den Flüchtlingen
Zehntausende Flüchtlingen landen nach wie vor an Italiens Küste. Um diese Zuwanderung zu stoppen, verteilt die EU Gelder an afrikanische Länder, die entlang der Flüchtlingsrouten liegen. Ob diese aber wirklich das Geschäft mit den Migranten stoppen wollen, ist fraglich.
"Sie haben keinen mit der Waffe getötet, aber sie haben dauernd auf uns eingeprügelt. Zwei Menschen sind verhungert: Eine Frau, etwa 26 und ein Mann, etwa 40."
Die Frau, die das im Café an der Hauptstraße erzählt, ist Eritreerin. Semret K. hat fast ein Jahr gebraucht, um von Eritrea nach Europa zu kommen. Die 28-Jährige ist zierlich, unauffällig. Nichts verrät, woher sie die Kraft genommen hat, das, was sie erlebt hat, durchzustehen.
Wie 50.000 Eritreer jährlich hat Semret ihre Heimat verlassen. Wie für die meisten eritreischen Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ist sie von Eritrea in den benachbarten Sudan und von dort aus über Libyen nach Italien gereist. Was nach einem schlichten Länder-Abklappern klingt, ist in Wirklichkeit eine riesige Distanz, viele tausende Kilometer lang mit vielen Gefahren: Sklavenhändler, die Wüste, die riskante Fahrt übers Mittelmeer und viele bewaffnete Gruppen in Libyen – nicht zuletzt der IS. Khartum: Die sudanesische Hauptstadt, war die erste Station nach der eritreischen Grenze.
Ostafrikas Schaltstelle für Schleuser
Geduckt, unterhalb der Ladeflächenwand eines Lastwagen, damit niemand sie sehen konnte, kam Semret in der Acht-Millionen-Stadt an. Wie eine Diebin. So müssen sich hunderttausende eritreische Flüchtlinge bewegen, um sich vor der sudanesischen Regierung zu schützen. Denn die versucht immer wieder, Migranten abzuschieben. Trotzdem ist Khartum die wichtigste ostafrikanische Schaltstelle für die Schleuser, sagt Sultan, ein Vertrauensmann der eritreischen Gemeinde in Khartum.
"Gerade stand draußen ein Auto, das war ein Schleuser, ein Samsari. Er transportiert Äthiopier via Libyen oder Ägypten ans Mittelmeer."
Auch Semret kam über ihre Tante, die einen Schleuser aus der alten Heimat kannte, an einen Samsari. Sie blieb nur sechs Tage in Khartum, streifte über die Märkte, bis sie zusammenhatte, was man so für die Reise nach Europa braucht.
Tamer ist ein junger Mann, Mitte 20. Er ist einer derjenigen, der die Flüchtlinge sozusagen anwirbt, ihnen nicht erzählt, was auf sie zukommt, welche Risiken sie eingehen müssen. Aber Tamer, der mit einem der größten Schleuser des Landes zusammenarbeitete, weiß, wie das Geschäft läuft.
Tamer ist ein junger Mann, Mitte 20. Er ist einer derjenigen, der die Flüchtlinge sozusagen anwirbt, ihnen nicht erzählt, was auf sie zukommt, welche Risiken sie eingehen müssen. Aber Tamer, der mit einem der größten Schleuser des Landes zusammenarbeitete, weiß, wie das Geschäft läuft.
"Bis nach Italien kostet es 2000 Dollar."
"Wie lange braucht man dorthin?"
"Sieben Tage über Ägypten. In Libyen braucht man Zeit, bis zu zwei Wochen. In Libyen und an der Küste bewegt sich alles langsam."
"Wie lange braucht man dorthin?"
"Sieben Tage über Ägypten. In Libyen braucht man Zeit, bis zu zwei Wochen. In Libyen und an der Küste bewegt sich alles langsam."
Mittlerweile arbeitet die sudanesische Regierung mit der EU zusammen, hat Verträge unterzeichnet – und eine eigene Truppe dafür an der sudanesisch-libyschen Grenze stationiert. Die Rapid Response Force, schnelle Eingreiftruppe.
Sudanesische Eingreiftruppe tut nichts
"Hat die Eingreiftruppe jemals Flüchtlinge verhaftet?"
"Davon habe ich nichts gehört. Wir erfahren zwar manchmal, dass die sudanesischen Behörden eritreische Flüchtlinge an der Grenze schnappt, aber die Schleuser sind ja schlau, sie gehen nicht an den Checkpoints über die Grenze. Ich glaube nicht, dass die schnelle Eingreiftruppe etwas bewirken kann."
"Aber was macht denn die sudanesische Regierung?"
"Sie tut nichts."
"Davon habe ich nichts gehört. Wir erfahren zwar manchmal, dass die sudanesischen Behörden eritreische Flüchtlinge an der Grenze schnappt, aber die Schleuser sind ja schlau, sie gehen nicht an den Checkpoints über die Grenze. Ich glaube nicht, dass die schnelle Eingreiftruppe etwas bewirken kann."
"Aber was macht denn die sudanesische Regierung?"
"Sie tut nichts."
Auch Semret spürte nichts von schwierigen Kontrollen, kaum war ihre Reise durch ein paar Telefonanrufe organisiert, ging es los.
Haben die Migranten den Sudan erst einmal hinter sich gelassen, erwarten sie weit größere Gefahren: In Libyen müssen sie die Sahara durchqueren und hoffen, dass sie nicht von einer der zahllosen Milizen auf dem Weg zur Küste gefangengenommen werden.
"Wir fuhren nicht auf der Straße, nur durch die Sahara, hohe Dünen, hoch, runter. Niemand fiel runter. Wir hörten von Leuten vor uns, die runtergefallen und dort gestorben sind. Von uns fiel niemand runter. Wir waren 64, zwischen 16 und 35 Jahren. 21 Frauen, Männer und drei Kinder. Klein. 5, 7, 11 Jahre alt."
Wer vom Pickup fällt, der stirbt
Der Weg durch die libysche Wüste ist einer der gefährlichsten Streckenabschnitte. Wer hier aus Erschöpfung oder krank vom Pickup herunterfällt, hat keine Überlebenschance. Der Konvoi hält nicht an, fährt einfach weiter. Es gibt Schätzungen, nach denen mindestens genauso viele Flüchtlinge in der Wüste umkommen, wie bei der Überfahrt über das Mittelmeer. Dazu besteht immer die Gefahr, entführt zu werden.
Semret hat jedoch Glück, gelangt ohne Zwischenfälle bis nach Ajdabiya, jener nordlibyschen Stadt, die lange als Verteilerstation für Flüchtlinge galt.
Das Schleuserbusiness ist äußerst straff organisiert. Von Anwerbern wie Tamer über den Organisator der Strecke bis ans libysche Mittelmeer, der wiederum mit bestimmten lokalen Milizen in Libyen zusammenarbeitet und schließlich dem Organisator der Überfahrt, der wiederum mit Schleusern in Italien zusammenarbeitet. Und überall wird Geld fällig, das von allen Ecken der Welt nach Khartum oder Tripolis transferiert wird.
"Wir lebten auf einem großen Gelände bei einem Haus. Ungefähr 100 Menschen. Wir haben geschlafen wie die Sardinen, hatten kein Wasser, um uns zu waschen. Kein Essen. Weil wir schnell bezahlt haben, sind wir nur sechs Tage geblieben. Andere blieben ein bis drei Monate."
Semret erzählt all das weitgehend unaufgeregt, wie aus weiter Distanz. Immer wieder versucht sie ihre Erzählung zu raffen, will nur die großen Abschnitte berichten, erst Khartum, dann Libyen, danach der IS, die Überfahrt und schließlich Europa.
Semret erzählt all das weitgehend unaufgeregt, wie aus weiter Distanz. Immer wieder versucht sie ihre Erzählung zu raffen, will nur die großen Abschnitte berichten, erst Khartum, dann Libyen, danach der IS, die Überfahrt und schließlich Europa.
Entführt in der libyschen Wüste
Nach ein paar Tagen geht es weiter, wieder fahren sie nachts los. Semret zählt die Tage. Wieder passieren sie mit dem Lastwagen einen der vielen Kontrollpunkte der libyschen Miliz. Semret beobachtet durch einen Spalt in der Ladeplane, wie der Fahrer einem Soldaten ein Bestechungsgeld zusteckt. Nach zwei Stunden, um Mitternacht, hält ihr Laster erneut. Wieder eine Kontrolle?
"Zuerst dachten wir, sie sind normale Soldaten, aber auf dem Stützpunkt trugen sie diese Masken, wo man nur die Augen sieht. Wir sagten: 'Das ist ISIS, wir können nicht entkommen! Jetzt ist es in Gottes Hand. Wir müssen beten.' Wir wussten, dass sie Leute umbringen."
Als Semret dem IS begegnet, haben die Fanatiker mehrere Städte in Libyen besetzt und sind dabei, sich weiter auszudehnen. Mehrere tausend Jihadisten stehen unter ihrem Kommando. Und Semret, die ein wenig arabisch spricht und sich selbst englisch beigebracht hat, kann sie beobachten:
"Der Emir war Libyer. Abu Shishani. Abu Hafez ist Tunesier, Abu Janna, Abu Issa sind aus Sudan, Abu Ali ist auch aus Libyen. Zuerst sahen wir die ISIS-Flagge täglich. Es kamen viele Autos auf den Stützpunkt, wir sahen viele ISIS-Leute. Die Männer sprachen arabisch und englisch."
Semret hat wie kaum ein zweiter den IS und seine ausländischen Kämpfer in Libyen aus der Nähe beobachten können. Sie könnte sie identifizieren – und doch ist nie ein Geheimdienst auf sie zugekommen, um Informationen über die Jihadisten zu sammeln.
Flucht inmitten der IS-Hochburg
Über Monate ist Semret in einer stickigen Hütte mit zwei Dutzend anderen Eritreerinnen eingesperrt, zunächst vollkommen isoliert. Schließlich werden die Frauen aufgeteilt. Semret wird mit einer Freundin einem IS-Chef, dem Emir, als Köchin zugeteilt.
Von ihrem kleinen Fenster beobachten sie und ihre Freundin, wie sich die Menschen in der Stadt bewegen. Sie sind in Sirte, der Hochburg des IS. Ein Entkommen scheint unmöglich. Dennoch trauen sich die beiden Frauen zu fliehen. Sie wissen, dass ihre Bewacher an die Front gefahren sind, dass sie lange dort sein werden.
Selbst jetzt, wo die IS-Geiselhaft Monate hinter ihr zurückliegt, wirkt Semret erleichtert, lacht. Sie kann es kaum glauben, dass niemand sie kontrolliert, dass die beiden Frauen es zum Taxistand schaffen, wo sie von den Fahrern vor dem IS versteckt werden. Für 100 Dollar kommen sie in die nächste Stadt, wo sie wie all die anderen Flüchtlinge auf Lastwagen heimlich in die Umgebung von Tripoli gebracht werden. Mittlerweile hat Semret den Samsari, der sie ursprünglich nach Europa bringen sollte, per Telefon kontaktiert, er holt sie persönlich ab.
Vielleicht will der Schleuser etwas an ihr gut machen, vielleicht rührt ihn, was sie erlebt hat. Vielleicht denkt er aber auch daran, wie schlecht es fürs Geschäft ist, wenn solche Berichte in der eritreischen Community die Runde machen. Tatsächlich leben die meisten Flüchtlinge in Tripoli unter erbärmlichen Bedingungen.
Am 1. März steigt Semret nachts in ein Boot, nach Wochen des Wartens soll es heute nach Europa gehen, nach Italien. Zusammen mit 120 Passagieren ist das Boot vollkommen überladen, doch das Risiko scheint Semret egal.
"Drei Stunden von der Küste entfernt stoppt uns das libysche Militär. Sie wollen uns ins Gefängnis stecken. Wir sind wütend, weinen, sind traurig. Wir verhandeln eine Stunde lang auf dem Meer. Bis sie ihren Boss anrufen, dann nehmen sie 50 Leute mit. Wir anderen sollen umkehren. Um sechs Uhr morgens sind wir wieder in Tripoli und fragen den Samsari, was wir jetzt machen sollen. Der Samsari erzählt mir, dass das Militär 500 Dinar für jeden der Verhafteten verlangt, jeder Tag kostet weitere 500 Dinar."
Semret, die nach der fehlgeschlagenen Überfahrt wieder beim Samsari untergebracht ist, bekommt mit, worüber immer wieder spekuliert wird: wie das libysche Militär, sei es Marine oder Küstenwache, mit Schleusern zusammenarbeitet, um Geld aus den Flüchtlingen herauszupressen.
Eine Million Dollar für eine Bootsladung Flüchtlinge
Die Schleuser verdienen bis zu einer Million Dollar mit einer einzigen Bootsladung Flüchtlinge. Sie profitieren vom Bürgerkriegschaos in Libyen, kommen so leicht an Waffen. Und die Flüchtlinge riskieren alles, um ein neues, sicheres Leben zu bekommen. Auch Semret.
"Der Samsari ist ein guter Mann, er sagt, ihr braucht nicht ein zweites Mal zahlen. Wenn das Wetter gut ist, schicken wir euch wieder los. Nach 14 Tagen geht es wieder los, am 16. März kam ich in Italien an."
Nun sitzt sie da, in einem Lokal in einem kleinen Ort in Niedersachsen. Sie ist Sklavenhändlern entgangen, schlüpfte durch den Sudan, hat die Sahara durchquert, wurde vom IS gefangen und riskierte ihr Leben bei der Fahrt übers Mittelmeer. Was für viele nur ein Wort – Migration oder Flucht – ist, war für Semret eine Ansammlung lebensgefährlicher Momente. Nun wird sie vom Alltag in einem Flüchtlingsheim zermürbt. Bald, so hofft sie, ist sie als Flüchtling anerkannt, dann will sie zu ihren Verwandten nach Süddeutschland ziehen. Und ihre Reise schnell vergessen.