Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Bork arbeitete als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Stuttgarter Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des SWR. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.
Touristen ohne jeden Stil und Kultur
Mehr als 1,2 Milliarden Menschen machen sich nach UN-Angaben jährlich auf, um irgendwo einen schönen Urlaub zu verbringen. Tolle Sache, weil völkerverbindend und wirtschaftsfördernd. Die stetig wachsende Reiselust hat allerdings auch Schattenseiten.
Kennen Sie "Armandino's"? Dieses wirklich wunderbare Ristorante an der Amalfiküste, direkt am Meer in einer kleinen, versteckten Bucht bei … Halt! Vielleicht sollte ich Ihnen das hier im Radio doch nicht so ganz genau erklären. Nur so viel noch: "Armandino's" ist so authentisch, als würde Armandinos Frau Carmela persönlich in der Küche stehen und nur für ein paar Freunde der Familie kochen.
Neulich waren wir wieder da. Wie in jedem Jahr. Armandino hat uns umarmt, die Muscheln mit Safranrisotto waren toll wie immer, der weiße Wein kühl, frisch und leicht. Alles wäre – Sie ahnen es – wunderbar gewesen, wenn am Nachbartisch nicht plötzlich eine Gruppe Engländer eingefallen wäre.
Her mit dem Bier!
Männer wie Frauen nicht mehr ganz jugendlichen Alters, alle in noch feuchter Badebekleidung von schrillster Farbe und entweder zu knappem oder zu großzügigem Zuschnitt. Des Italienischen war von ihnen offensichtlich niemand mächtig, kein Wort dieser melodischen Sprache schien ihnen geläufig zu sein. Stattdessen erschreckte ihr Wortführer die über ihre Teller geneigte Genießer-Gemeinde mit der in Richtung Theke gelärmten Feststellung: "We need beer!"
Bitte glauben Sie jetzt nicht, dass ich etwa etwas gegen unsere Nachbarn von der Insel hätte, Brexit hin oder her. Ganz im Gegenteil: Ich schätze ihren Tee und ihren trockenen Humor, und ich werde ihnen ewig dankbar sein, dass sie uns damals die Beatles, die Stones, die Who und die Kinks geschenkt haben.
Was zu viel ist, ist zu viel
Aber was zu viel ist, ist einfach zu viel, und die von jeglicher Kultur und jeglichem Stil weit entfernte Touri-Truppe bei meinem geliebtem Armandino ist ja kein Einzelfall.
Derzeit lässt sich vielmehr überall beobachten, dass alles, was auch nur ein wenig touristischen Reiz hat, bis zum zeitweiligen Untergang mit seh-, trink- und snacksüchtigen Menschen geflutet wird.
Ihnen ist Zurückhaltung im Auftreten meist ebenso fremd wie einem süditalienischen Paten das Einmaleins der Demokratie. Der Respekt vor anderen Kulturen geht bei ihnen gegen Null: Am besten soll auch anderswo alles so sein wie zuhause, nur eben weiter weg und billiger.
Geiz ist inzwischen auch im Reisebusiness geil, freundlich ausgedrückt könnte man das allerdings auch eine "Demokratisierung des Reisens" nennen. Deutsche in Sandalensöckchen, bechernde Briten, die alte Welt unverständig bestaunende Amis und nicht zuletzt von ihrem Selfiestick nicht mehr zu trennende Japaner - das sind die Träger der modernen Reisekultur.
Der Herr Goethe rotiert im Grab
Mich schaudert's und ich sehe den reisenden Herrn Goethe im Grab rotieren. Doch nach einem kurzen Moment bin ich mir nicht mehr so ganz sicher, ob ich nun über den Lauf der Welt erschrecke oder eher über meine eigene Entwicklung.
Könnte es sein, dass ich meine ganze linksliberal-fortschrittliche Vergangenheit peu à peu gegen eine falsch verstandene Bürgerlichkeit eingetauscht habe, die nur sich selbst als Maßstab dieser Welt anerkennt?
Wahrscheinlich ist das in der Tat so. Aber bürgerliche Werte – so tröste ich mich – bürgerliche Werte müssen ja nicht per se schlecht sein.
Nehmen wir nur einmal das 17. Jahrhundert, eine Zeit, in der eine aufkommende Mittelschicht sich gegen Adel und Klerus als Hauptakteur der Geschichte profilierte. Das Bürgertum wollte damals auch im ganz realen Sinn mit Bildungsreisen seinen Horizont erweitern, es drängte nach Wissen und dürstete nach neuen Ideen.
Bürgertum ohne Hunger und Durst
Heute scheint ihm dieser Hunger und Durst ziemlich abhandengekommen zu sein. Statt Hoffnungen haben wir Menschen der Mitte Existenzängste entwickelt, betrogen von oben und nicht nur im Urlaub bedroht von unten.
Aber hören wir doch besser auf zu schmollen und zu klagen! Was, liebe Mit-Bürger, spräche denn eigentlich dagegen, dass wir uns in unserer unbequemen Lage wieder einmal verschärft Gedanken über die Verbesserung der Welt machten? Gern auch mit einem Glas Wein in der Hand und gern auch bei Armandino's. Ich würde dann schon einmal einen Tisch reservieren …