Schlingensief zeigt seine Wunden
Regisseur Christoph Schlingensief hat tiefe Wunden davon getragen. Im Fluxus-Oratorium "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" breitet er nun sein Ich vor den Zuschauern aus. Doch der 90-minütige Blick in den chaotischen, wüsten Kopf Schlingensiefs ist eine hemmungslose Überforderung. Schorsch Kameruns "Westwärts" dagegen erweckt die Maschinenhalle in Gladbeck grandios zum Leben - für solche Projekte wurde die RuhrTriennale einmal erdacht.
"Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt", sagt ein Mann ins Mikrofon. "Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt." Christoph Schlingensief, der Filmemacher, Theaterregisseur und Performancekünstler, hat tiefe Wunden davon getragen. Der linke Lungenflügel wurde ihm entfernt, Krebs brachte ihn an den Rand des Todes. In tiefster Verzweiflung hat er Texte geschrieben und auf Bänder gesprochen. Sie sind nun Grundlage des Fluxus-Oratoriums "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir".
Schlingensief ist ein spiritueller Mensch. Er hat sich mit Schamanismus und Voodoo-Glauben auseinander gesetzt und war in seiner Jugend Messdiener in Oberhausen. In seiner überbordenden, alle Sinne absichtsvoll überreizenden Fantasie ist er ein Gralssucher zwischen den Religionen. Kein Wunder, dass er in Bayreuth den "Parsifal" inszeniert hat.
Mit seiner "Kirche der Angst" sucht er nun die Reinigung. Er will alle bösen Geister verjagen, die seinen Körper befallen haben, das Fremde in sich selbst bekämpfen. Für Schlingensiefs Verhältnisse fängt der Abend ruhig an. Die Zuschauer sitzen auf harten Kirchenbänken und schauen auf einen Altarraum. An den Seitenwänden flimmern Filmprojektionen. Dann explodiert die Szene.
Ein Kinderchor stürmt durch den Mittelgang, kurz darauf folgen Gospelsänger. Zwei ausgezeichnete Sängerinnen (Friederike Harmsen und Ulrike Eidinger) arbeiten sich durch die Musikgeschichte von geistlichen Klängen bis zur Avantgarde. Die Textcollage vereint neben Schlingensiefs Sätzen Texte aus der Bibel, von Heiner Müller, Hölderlin und vielen anderen.
Die Leinwände zeigen den kleinen Christoph in einem Doppel-8-Film, den sein Vater vor 42 Jahren gedreht hat, Ausschnitte aus Fluxus-Performances und Filmen Schlingensiefs. Margit Carstensen, Angela Winkler und einige andere Schauspieler verkörpern Schlingensief in verschiedenen Stadien seiner Krebserkrankung und sprechen seine Texte. Und einige geistig behinderten Darsteller, mit denen der Allroundkünstler oft arbeitet, sind auch dabei.
Die Aufführung ist wie ein Blick in den chaotischen, wüsten Kopf Christoph Schlingensiefs. Er breitet sein Ich vor den Zuschauern aus und zeigt sich selbst in einem Moment der absoluten Hoffnungslosigkeit. "Nicht berühren", wimmert der kranke Schlingensief auf der Leinwand, ein Elendshaufen, völlig zusammen gebrochen. "Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt."
Schlingensief glaubt daran, auch wenn sein Fluxus-Oratorium manchmal ins Ekstatische oder Skurrile gleitet, ist ihm die Sache sehr ernst. Die 90-minütige Aufführung ist eine hemmungslose Überforderung des Zuschauers. Man kann sie nicht verstehen oder analysieren. Es ist ein seltsamer, privater, befremdender Gottesdienst, ein Hadern und ein Hilfeschrei. Schlingensief tritt selbst auf und feiert das Abendmahl. Dann inszeniert er seine eigene Beerdigung. Metronome ticken in der Dunkelheit, dann gehen sie aus. Stille. Vielleicht folgt eine Wiederauferstehung.
"Westwärts" von Schorsch Kamerun
Die Öffnung ist eng. Die Zuschauer zwängen sich hindurch und landen in einem Gang, umgeben von einer milchigen Plastikplane. Man kann hindurch sehen, aber die Bilder bleiben verschwommen. Die Gänge bilden ein kleines Labyrinth quer durch die Maschinenhalle, immer wieder gerät der Besucher in Sackgassen. Aus Lautsprechern tönt eine gleichförmige, sanft dissonante Musik ans Ohr. Bald kommen Texte dazu.
Außerhalb der Gänge, in der riesigen Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck sitzen Menschen. Einige warten, wirken erstarrt, schauen aus dem Fenster. Andere arbeiten, bauen etwas zusammen, suchen nach Material. Die Zuschauer werden Zeuge einer Stunde Null, eines Ausnahmezustandes. Das Gesellschaftssystem ist kaputt gegangen, vielleicht nach einem Krieg oder einer Naturkatastrophe.
Die Leute müssen sich neu organisieren. Sie bauen Betten auf, errichten einen riesigen Schlafsaal. Überall schälen sich kleine Gruppen und Individuen aus der Masse. 150 Menschen leben, spielen zwei Stunden lang. Ohne eine Geschichte, ohne dramatische Höhepunkte. Sie spielen keine Rollen und haben keine Texte gelernt. Sie bleiben sie selbst, arbeiten, lernen, schlafen, diskutieren.
Unter einer Kuppel über der Szenerie steht die großartige Sandra Hüller mit einem Kammerensemble. Sie singt und spricht Texte von Rolf Dieter Brinkmann, wütende, traurige Sätze, aber auch Gedichte, in denen Visionen einer schöneren, liebevollen Welt aufscheinen. Die Musik von Schorsch Kamerun und Carl Oesterhelt entwickelt einen hypnotischen Sog.
In den Gängen, mit dem Blick durch die milchigen Planen, wirkt alles bedrohlich, surreal, unheimlich. Ärzte in weißen Kitteln eilen durch den Raum, die Leute stehen Schlange vor Bürokraten an Schreibtischen, andere ziehen Schutzanzüge an, als sei die Halle kontaminiert. Aber es gibt auch skurrile Momente, ein einsamer Bergmann geht durch die Szene und singt bei einer Hochzeit, Mädels in engen Trikots stellen sich zu akrobatischen Figuren auf.
Jeder Zuschauer sieht etwas anderes, erlebt seine eigene Aufführung. Für solche Projekte wurde die Ruhrtriennale einmal erdacht, etwas wie "Westwärts" kann man nirgendwo anders sehen als in der grandios zum Leben erweckten Maschinenhalle in Gladbeck.
Schlingensief ist ein spiritueller Mensch. Er hat sich mit Schamanismus und Voodoo-Glauben auseinander gesetzt und war in seiner Jugend Messdiener in Oberhausen. In seiner überbordenden, alle Sinne absichtsvoll überreizenden Fantasie ist er ein Gralssucher zwischen den Religionen. Kein Wunder, dass er in Bayreuth den "Parsifal" inszeniert hat.
Mit seiner "Kirche der Angst" sucht er nun die Reinigung. Er will alle bösen Geister verjagen, die seinen Körper befallen haben, das Fremde in sich selbst bekämpfen. Für Schlingensiefs Verhältnisse fängt der Abend ruhig an. Die Zuschauer sitzen auf harten Kirchenbänken und schauen auf einen Altarraum. An den Seitenwänden flimmern Filmprojektionen. Dann explodiert die Szene.
Ein Kinderchor stürmt durch den Mittelgang, kurz darauf folgen Gospelsänger. Zwei ausgezeichnete Sängerinnen (Friederike Harmsen und Ulrike Eidinger) arbeiten sich durch die Musikgeschichte von geistlichen Klängen bis zur Avantgarde. Die Textcollage vereint neben Schlingensiefs Sätzen Texte aus der Bibel, von Heiner Müller, Hölderlin und vielen anderen.
Die Leinwände zeigen den kleinen Christoph in einem Doppel-8-Film, den sein Vater vor 42 Jahren gedreht hat, Ausschnitte aus Fluxus-Performances und Filmen Schlingensiefs. Margit Carstensen, Angela Winkler und einige andere Schauspieler verkörpern Schlingensief in verschiedenen Stadien seiner Krebserkrankung und sprechen seine Texte. Und einige geistig behinderten Darsteller, mit denen der Allroundkünstler oft arbeitet, sind auch dabei.
Die Aufführung ist wie ein Blick in den chaotischen, wüsten Kopf Christoph Schlingensiefs. Er breitet sein Ich vor den Zuschauern aus und zeigt sich selbst in einem Moment der absoluten Hoffnungslosigkeit. "Nicht berühren", wimmert der kranke Schlingensief auf der Leinwand, ein Elendshaufen, völlig zusammen gebrochen. "Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt."
Schlingensief glaubt daran, auch wenn sein Fluxus-Oratorium manchmal ins Ekstatische oder Skurrile gleitet, ist ihm die Sache sehr ernst. Die 90-minütige Aufführung ist eine hemmungslose Überforderung des Zuschauers. Man kann sie nicht verstehen oder analysieren. Es ist ein seltsamer, privater, befremdender Gottesdienst, ein Hadern und ein Hilfeschrei. Schlingensief tritt selbst auf und feiert das Abendmahl. Dann inszeniert er seine eigene Beerdigung. Metronome ticken in der Dunkelheit, dann gehen sie aus. Stille. Vielleicht folgt eine Wiederauferstehung.
"Westwärts" von Schorsch Kamerun
Die Öffnung ist eng. Die Zuschauer zwängen sich hindurch und landen in einem Gang, umgeben von einer milchigen Plastikplane. Man kann hindurch sehen, aber die Bilder bleiben verschwommen. Die Gänge bilden ein kleines Labyrinth quer durch die Maschinenhalle, immer wieder gerät der Besucher in Sackgassen. Aus Lautsprechern tönt eine gleichförmige, sanft dissonante Musik ans Ohr. Bald kommen Texte dazu.
Außerhalb der Gänge, in der riesigen Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck sitzen Menschen. Einige warten, wirken erstarrt, schauen aus dem Fenster. Andere arbeiten, bauen etwas zusammen, suchen nach Material. Die Zuschauer werden Zeuge einer Stunde Null, eines Ausnahmezustandes. Das Gesellschaftssystem ist kaputt gegangen, vielleicht nach einem Krieg oder einer Naturkatastrophe.
Die Leute müssen sich neu organisieren. Sie bauen Betten auf, errichten einen riesigen Schlafsaal. Überall schälen sich kleine Gruppen und Individuen aus der Masse. 150 Menschen leben, spielen zwei Stunden lang. Ohne eine Geschichte, ohne dramatische Höhepunkte. Sie spielen keine Rollen und haben keine Texte gelernt. Sie bleiben sie selbst, arbeiten, lernen, schlafen, diskutieren.
Unter einer Kuppel über der Szenerie steht die großartige Sandra Hüller mit einem Kammerensemble. Sie singt und spricht Texte von Rolf Dieter Brinkmann, wütende, traurige Sätze, aber auch Gedichte, in denen Visionen einer schöneren, liebevollen Welt aufscheinen. Die Musik von Schorsch Kamerun und Carl Oesterhelt entwickelt einen hypnotischen Sog.
In den Gängen, mit dem Blick durch die milchigen Planen, wirkt alles bedrohlich, surreal, unheimlich. Ärzte in weißen Kitteln eilen durch den Raum, die Leute stehen Schlange vor Bürokraten an Schreibtischen, andere ziehen Schutzanzüge an, als sei die Halle kontaminiert. Aber es gibt auch skurrile Momente, ein einsamer Bergmann geht durch die Szene und singt bei einer Hochzeit, Mädels in engen Trikots stellen sich zu akrobatischen Figuren auf.
Jeder Zuschauer sieht etwas anderes, erlebt seine eigene Aufführung. Für solche Projekte wurde die Ruhrtriennale einmal erdacht, etwas wie "Westwärts" kann man nirgendwo anders sehen als in der grandios zum Leben erweckten Maschinenhalle in Gladbeck.