Schlips, weißer Kragen und Doktortitel
Die Mafia der Nachkriegsjahre in Sizilien gibt es nicht mehr. An die Stelle der Clans ist ein System getreten, in dem Politik, Banken und achtbare Bürger die Geschäfte der Cosa Nostra übernehmen. Die moderne Mafia ist eine Bedrohung für ganz Europa.
Am 23. Juni dieses Jahres erschien in der sizilianischen Regionalpresse ein kurzer Artikel, in dem ein Brief zitiert wurde, gerichtet an den "Sehr geehrten Signor Matteo Messina Denaro." Darin heißt es:
"Ich will wissen, was mit meinen wundervollen Söhnen Stefano und Marco Maiorana geschehen ist."
Und weiter:
"Ich vertraue darauf, dass dieser offene Brief eine diskrete, aber überaus wertvolle Unterstützung erfahren möge, um der Unterzeichneten bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Ich wende mich an Sie als Elternteil und danke Ihnen schon bereits im Voraus in der Hoffnung, dass ich als Mutter, die zwei wundervolle Söhne verloren hat, eine übergeordnete Unterstützung erhalten kann, weil ich glaube, dass mein Recht als Mutter über allem steht."
Gerichtet ist dieser Brief an Matteo Messina Denora. Er ist augenblicklich der meistgesuchte Boss der Cosa Nostra in Sizilien.
Rosella Accardo setzt sich an einen der kleinen Tische im Café Bristol nahe der Hafeneinfahrt von Palermo und bestellt sich einen Espresso. Sie ist knapp 50 Jahre alt, mittelgroß und füllig. Auffällig sind ihre dichten, rötlich gefärbten Haare und die modische Brille mit heller Plastikfassung. In Palermo ist es zu dieser Jahreszeit immer noch heiß, deshalb trägt Rosella ein leichtes helles Leinenkostüm. Gleich muss sie in die Industrie und Handelskammer, die in einem zehnstöckigen Palazzo gegenüber dem Café Bristol ihren Sitz hat. Sie wird zum Thema: "Widerstand gegen den Einfluss der Mafia in Wirtschaft und Gesellschaft" sprechen. Sie hat eigene, schmerzliche Erfahrungen: Am 3. August 2007 brach ein Drama über ihre Familie herein, und gegen ihre Verzweiflung kämpft sie seither mit gesteigerten Aktivitäten. Kaum hat sie sich gesetzt, da sprudeln die Worte schon aus ihr heraus:
"Die letzte SMS hat Stefano an seine Freundin geschickt, er schreibt ihr, dass es kurz vor sieben ist und er schon auf der Baustelle arbeitet und Guten Morgen amore mio …"
Rosella hat noch nicht einmal die ersten wichtigen Einzelheiten ihrer jüngsten Lebensgeschichte erzählt, da bricht sie bereits in Tränen aus: Auch drei Jahre nach dem schrecklichen Ereignis, das ihr Leben veränderte, hat sie den Schmerz nicht überwunden. Ihr Schluchzen geht unter im Lärm des Verkehrs, der sich an den Dutzend Tischchen vor dem Café Bristol zur Hafeneinfahrt hinunterquält. Endlich erzählt sie weiter: Die Liebesgrüße an die Freundin waren das letzte Lebenszeichen ihres ältesten Sohnes Stefano. Irgendwann am Vormittag des 3. August 2007 verschwand er spurlos zusammen mit seinem Vater Antonio Majorana, dem geschiedenen Mann von Rosella. Erst sechs Monate später gab es ein scheinbares Lebenszeichen der beiden. Man hatte sie angeblich in Barcelona gesehen. Rosella und ihr jüngerer Sohn Marco flogen sofort nach Spanien:
"Wir haben überall gefragt , in den verschiedenen Bars und habe mehrere Fotos von den beiden herumgezeigt. Aber erkannt wurden sie immer nur auf einem einzigen, wo mein Mann in Jacke und Krawatte und mit einer Zigarre abgebildet ist. Und da fragte ich mich natürlich, haben die Zeugen wirklich Antonio Majorana erkannt oder ihn mit jemandem anderen verwechselt, der auch Zigarre rauchte. Ich musste das klären: War es wirklich mein Ex-Mann Antonio, handelte es sich um meinen Sohn Stefano?"
Die Suche in Barcelona wurde schließlich ergebnislos abgebrochen. Rosella glaubte weiter an die Flucht und dass Vater und Sohn noch am Leben sind, während Marco die Hoffnung aufgab. Er war in viele Geheimnisse seines Bruders eingeweiht und wusste, dass sein Vater und sein Bruder in dunkle Geschäfte mit der Mafia verstrickt waren:
"Man sah ihm an, dass er überzeugt war, sein Vater und sein Bruder befänden sich bereits im Jenseits. Er hat es mir nie offen gesagt , er wollte nicht, dass ich leide. Aber man wusste, auch ohne dass er es ausdrückte, was er sagen wollte: Mein Vater und Stefano leben nicht mehr."
Sind sie von der Cosa Nostra umgebracht worden? Und weshalb? Seit dem Verschwinden von Stefano und Antonio Majorana wurden in Sizilien mehrere Mafiosi festgenommen, Mitglieder des Clans von Matteo Messina Denaro, dem mächtigsten Mafiaboss, der in Sizilien nach wie vor auf freiem Fuß ist. Bei den Vernehmungen wurden sie stets nach den verschwundenen Majoranas befragt. Die Antworten blieben vage und ließen offen, ob Antonio und Stefano der Lupara Binaca zum Opfer gefallen sind. Die normale "Lupara" ist ein Jagdgewehr, die "weiße Lupara" dagegen ein Becken voll ungelöschtem Kalk. Eine todsichere Methode der Mafia, mit der sie schon viele ihrer Opfer spurlos beseitigt hat.
Dass die Mafia sich bisher nicht zum Tod der Majoranas bekannt hat, will nichts besagen. Solche Informationen sind ein wertvolles Kapital festgenommener Mafiosi. Oft erst nach Jahren fangen sie an, auszupacken und erhalten dafür als Kronzeugen Hafterleichterungen oder gar die Freilassung, wenn durch ihre Aussagen wichtige Verbrechen aufgeklärt werden. Ende letzten Jahres zum Beispiel meldete sich beispielsweise der geständige Mafioso Gasparre Spatuzza zu Wort, der, obwohl mehrfacher Mörder, in Freiheit unter falschem Namen lebt. Sein Clanchef habe ihm schon vor Jahren von einem Treffen mit wichtigen Persönlichkeiten berichtet, erklärte Spatuzza:
"Er nannte mir zwei Namen, einmal Berlusconi und ein weiterer, der aus Sizilien kommt, nämlich dell’Utri. "
Marcello dell’Utri ist Senator im römischen Parlament, rechte Hand von Regierungschef Berlusconi und bereits in zweiter Instanz wegen Zusammenarbeit mit der Mafia zu sieben Jahren Haft verurteilt. Gegen den Mafiaverdächtigen dell’Utri gibt es eine Menge Beweise nach Aussagen geständiger Mafiosi, die sich zum Teil auf weit zurückliegende Ereignisse beziehen, und erst langsam ein deutlicheres Licht auf die Veränderungen werfen, die die Cosa Nostra in den letzten knapp 20 Jahren vollzogen hat. Gewalttaten sind selten geworden. Die Bombenstrategie der Mafia Anfang der 90er-Jahre hat sich als Fehlschlag erwiesen. Die alten Bosse sind ausnahmslos in Haft. Die Geschäfte der neuen Mafia werden heute in besseren Kreisen abgewickelt, weiß Francesco Forgione, bis vor zwei Jahren Abgeordneter der kommunistischen Partei und Chef der Antimafia-Kommission des römischen Parlaments:
"Cosa Nostra und die anderen Mafiaorganisationen entwickeln sich immer stärker zu illegalen Wirtschafts- und Finanzunternehmen, deren Führer nicht mehr einfache Kriminelle sind, sondern heute eher einer gehobenen Mittelschicht angehören. Das hat dazu geführt, dass die Mafia heute mit eigenen Leuten vertreten ist in der Politik und in der Verwaltung."
Im Parlament sitzen heute mehrere Abgeordnete und Senatoren, die schwer belastet werden von geständigen Mafiosi. Während sie diese Zeugen als ferngesteuerte Lügner diskreditieren, pochen die auf sicheren Listenplätzen ins Parlament gewählten und mafiaverdächtigen Politiker auf ihr Recht, bis zur endgültigen Verurteilung als unschuldig zu gelten, trotz erdrückender Beweise in den beiden vorangegangenen Gerichtsinstanzen. Sich aus der Politik zurückzuziehen, wenn erhebliche Zweifel an ihrer Integrität bestehen, ist kein Thema für die italienischen Regierungspolitiker. Macht geht in Italien vor Moral, sagt Francesco Forgione, der heute als Universitätsprofessor "Soziologie des organisierten Verbrechens" lehrt:
"Es ist klar, dass bestimmte Kreise, die Berlusconi nahestehen, vor allem aber Marcello dell’Utri gemeinsame Sache mit der Cosa Nostra machten und heute noch mit ihr verstrickt sind. Während der letzten zwei Jahrzehnten der italienischen Republik gab es stets dauerhafte Verbindungen zwischen Mafia und Politik und ganz speziell zwischen Vertretern aus dem Lager Berlusconis und der Cosa Nostra."
Ein doppelter Zweck rechtfertigt dieses kriminelle Bündnis: Die Mafia sorgt für Wählerstimmen und den Machterhalt der ihr verbundenen Volksvertreter. Die wiederum treffen all jene Entscheidungen, von denen das organisierte Verbrechen profitiert. Die Staatsanwaltschaft von Palermo hat in den letzten Jahren dank Telefonüberwachung und versteckter Mikrofone Chefärzte, Notare, Anwälte und hohe Regionalbeamte als mächtige Mafiosi entlarvt, die mit öffentlichen Bauaufträgen die Taschen der Cosa Nostra füllten. In diesen Kreislauf aus Geld und Macht versuchen viele skrupellose Geschäftemacher einzusteigen. Die Mafia kontrolliert über die mit ihrer Hilfe gewählten Politiker den großen Geldtopf der öffentlichen Kassen und verteilt ihn gegen prozentuale Beteiligung an Bauarbeiten, Dienstleistungen und Warenverkehr. Der Umfang der vom organisierten Verbrechen getätigten Geschäfte wird alleine in Italien auf 200 bis 300 Milliarden Euro im Jahr geschätzt.
Wenn Antonio Majorana, versucht haben sollte, Geschäfte auf eigene Faust in einem von der Cosa Nostra kontrollierten System zu betreiben, dann dürfte an seinem gewaltsamen Ende kein Zweifel mehr bestehen. Auch dann nicht, wenn anonyme Anrufer Rosella Accardo nach wie vor davon überzeugen wollen, dass ihr Mann und ihr Sohn nicht tot sind, sondern im kolumbianischen Urwald leben, um dort den Rauschgifthandel im Auftrag der Cosa Nostra zu organisieren. Verwirrspiele dieser Art sind Teil der Strategie der Mafia. Falsche Fährten, die in Sackgassen führen, sind das tägliche Brot von Mauro. Von Beruf ist Mauro leitender Zivilfahnder der Staatspolizei, ein Caposquadra, ein Mafiajäger, der miterlebt hat, wie sich die Mafia in den letzten 20 Jahren radikal gewandelt hat:
"In früheren Zeiten waren die Mafiosi Hirten, die nur mit ihren Ziegen und Kühen redeten. Heute surfen sie im Internet, kommunizieren per E-mail, simsen mit drei, vier verschiedenen Handys gleichzeitig. Sie haben verstanden, dass es ihnen nicht gut tut, wenn sie sich wie Gewaltverbrecher benehmen und Leute umbringen, sondern dass es viel mehr bringt, wenn man sich an die führenden Politiker heranmacht, egal welcher Richtung. Wichtig ist zu wissen, wer die Macht in Händen hält, und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Wenn dir jemand auf die Füße tritt, überlass' das mir, ich bring' den schon zur Raison, wenn es sein muss auch mit Gewalt."
Mauro heißt nicht Mauro, und er darf eigentlich nicht mit Journalisten reden. Das Gespräch auf einem Autobahnparkplatz bei Palermo wurde arrangiert auf dem in Sizilien üblichen Wege: Freunde von Freunden haben den Kontakt hergestellt und nach unzähligen Telefonaten trifft man sich endlich an einem sicheren Ort. Mauro ist eher klein, 46 Jahre alt und seit über 20 Jahren Polizist. Inzwischen wohl auch frustriert. Oft haben seine Kollegen und er selbst ihr Leben riskiert, die Cosa Nostra aber existiert nach wie vor. Stolz ist er, dass er einige hundert Mafiosi hinter Gitter gebracht hat. Nur den Boss der Bosse, Matteo Messina Denaro, hat er bisher nicht geschnappt, aber das sei kein Wunder, denn der verfüge über Beziehungen zu höchsten Kreisen, sagt der Zivilfahnder Mauro:
"Andernfalls wäre es undenkbar, dass er seit 20 Jahren im Untergrund lebt. Es ist undenkbar, dass man ihn 20 Jahre lang verfolgt und immer noch nicht aufgestöbert hat."
Die Verbrecher der Mafia zu jagen, ist eine heikle Sache, verrät Mauro. Man müsse sich nämlich nicht nur vor der Mafia in acht nehmen:
"Das Problem ist nicht herauszufinden, wer ein Mafioso ist, sondern von wem er politische Deckung erhält. Man muss sich weniger vor der Mafia in Acht nehmen, die ohne Befehle von ganz oben niemanden mehr umbringt. Man muss sich in Acht nehmen vor den eigenen Kollegen, vor manchem Vorgesetzten oder Freunden von Kollegen, die als Zuträger für jene Politiker arbeiten, die wiederum Einfluss auf die Mafia nehmen."
Das bedeutet, dass die Mafia letztlich auch im Polizeiapparat über Mittelsmänner verfügt. Ein schwer durchschaubares Verwirrspiel. Rosella Accardo ist den Verdacht nie losgeworden, dass die Polizei nicht ernsthaft genug ermittelt hat. Bis heute hat sie keinen Einblick in die Akten bekommen. Solange kein Mafioso die Tat gesteht oder die Leichen nicht gefunden werden, habe Rosella kein Recht auf polizeiliche Informationen, ist die Begründung. Denn formal bestehe die Möglichkeit, dass ihr Sohn und ihr Ex-Ehemann aus freien Stücken irgendwo auf der Welt ein neues Leben begonnen haben. Der Einzige, der etwas ahnte, aber nie reden wollte, hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Rosellas jüngerer Sohn Marco hat Anfang letzten Jahres aus unerfindlichen Gründen Selbstmord begangen. Aber auch da ist sich die leidgeplagte Mutter nicht sicher. Ihre letzte Trumpfkarte, der offene Brief an den flüchtigen Mafiaboss Matteo Messina Denaro, einen Mörder und Drogenhändler, ist als offensiver Schachzug gedacht: Es ist die Bitte einer leidenden Mutter um einen Fingerzeig, ein Ja oder ein Nein, um endlich zu wissen, ob es noch Hoffnungen gibt oder nicht. Rosella glaubt, dass der Boss über das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen informiert ist:
"Matteo Messina Denaro ist ein sehr intelligenter Mensch. Ich habe kein Interesse daran, dass er ein Risiko eingeht, um mir eine Botschaft zukommen zu lassen. Aber ich würde sehr gerne einen Dialog mit ihm aufnehmen. Er ist Vater, dem es verwehrt ist, seine Tochter großzuziehen, so wie es mir nicht vergönnt ist, meinen Sohn bei mir zu haben."
Das klingt sehr pathetisch, aber Pathos ist ein ebenso wichtiger Wesenszug der Sizilianer wie die Ehre. Von ihrem Großvater habe sie als Kind gelernt, dass die Mafia einmal eine ehrenwerte Gesellschaft gewesen sei, in der die Werte der Familie hochgehalten wurden und Frauen und Kinder absoluten Schutz genossen:
"Die wirkliche Mafia gibt es eigentlich nicht mehr, sondern nur Verbrecher, die mit der Politik unter einer Decke stecken, ein Triumvirat, zu dem auch die Kirche ihren Beitrag leistet. Politische und religiöse Macht und organisiertes Verbrechen, das als Handlanger fungiert nach der Regel: Wer nicht mitmacht, ist ein toter Mann."
Aber vielleicht habe der Boss Matteo Messina Denaro ja noch einen Funken Ehre im Leib und lasse sie wissen, ob sie Ruhe finden und ihre Angehörigen wenigstens in Gedanken beerdigen kann.
"Ich will wissen, was mit meinen wundervollen Söhnen Stefano und Marco Maiorana geschehen ist."
Und weiter:
"Ich vertraue darauf, dass dieser offene Brief eine diskrete, aber überaus wertvolle Unterstützung erfahren möge, um der Unterzeichneten bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Ich wende mich an Sie als Elternteil und danke Ihnen schon bereits im Voraus in der Hoffnung, dass ich als Mutter, die zwei wundervolle Söhne verloren hat, eine übergeordnete Unterstützung erhalten kann, weil ich glaube, dass mein Recht als Mutter über allem steht."
Gerichtet ist dieser Brief an Matteo Messina Denora. Er ist augenblicklich der meistgesuchte Boss der Cosa Nostra in Sizilien.
Rosella Accardo setzt sich an einen der kleinen Tische im Café Bristol nahe der Hafeneinfahrt von Palermo und bestellt sich einen Espresso. Sie ist knapp 50 Jahre alt, mittelgroß und füllig. Auffällig sind ihre dichten, rötlich gefärbten Haare und die modische Brille mit heller Plastikfassung. In Palermo ist es zu dieser Jahreszeit immer noch heiß, deshalb trägt Rosella ein leichtes helles Leinenkostüm. Gleich muss sie in die Industrie und Handelskammer, die in einem zehnstöckigen Palazzo gegenüber dem Café Bristol ihren Sitz hat. Sie wird zum Thema: "Widerstand gegen den Einfluss der Mafia in Wirtschaft und Gesellschaft" sprechen. Sie hat eigene, schmerzliche Erfahrungen: Am 3. August 2007 brach ein Drama über ihre Familie herein, und gegen ihre Verzweiflung kämpft sie seither mit gesteigerten Aktivitäten. Kaum hat sie sich gesetzt, da sprudeln die Worte schon aus ihr heraus:
"Die letzte SMS hat Stefano an seine Freundin geschickt, er schreibt ihr, dass es kurz vor sieben ist und er schon auf der Baustelle arbeitet und Guten Morgen amore mio …"
Rosella hat noch nicht einmal die ersten wichtigen Einzelheiten ihrer jüngsten Lebensgeschichte erzählt, da bricht sie bereits in Tränen aus: Auch drei Jahre nach dem schrecklichen Ereignis, das ihr Leben veränderte, hat sie den Schmerz nicht überwunden. Ihr Schluchzen geht unter im Lärm des Verkehrs, der sich an den Dutzend Tischchen vor dem Café Bristol zur Hafeneinfahrt hinunterquält. Endlich erzählt sie weiter: Die Liebesgrüße an die Freundin waren das letzte Lebenszeichen ihres ältesten Sohnes Stefano. Irgendwann am Vormittag des 3. August 2007 verschwand er spurlos zusammen mit seinem Vater Antonio Majorana, dem geschiedenen Mann von Rosella. Erst sechs Monate später gab es ein scheinbares Lebenszeichen der beiden. Man hatte sie angeblich in Barcelona gesehen. Rosella und ihr jüngerer Sohn Marco flogen sofort nach Spanien:
"Wir haben überall gefragt , in den verschiedenen Bars und habe mehrere Fotos von den beiden herumgezeigt. Aber erkannt wurden sie immer nur auf einem einzigen, wo mein Mann in Jacke und Krawatte und mit einer Zigarre abgebildet ist. Und da fragte ich mich natürlich, haben die Zeugen wirklich Antonio Majorana erkannt oder ihn mit jemandem anderen verwechselt, der auch Zigarre rauchte. Ich musste das klären: War es wirklich mein Ex-Mann Antonio, handelte es sich um meinen Sohn Stefano?"
Die Suche in Barcelona wurde schließlich ergebnislos abgebrochen. Rosella glaubte weiter an die Flucht und dass Vater und Sohn noch am Leben sind, während Marco die Hoffnung aufgab. Er war in viele Geheimnisse seines Bruders eingeweiht und wusste, dass sein Vater und sein Bruder in dunkle Geschäfte mit der Mafia verstrickt waren:
"Man sah ihm an, dass er überzeugt war, sein Vater und sein Bruder befänden sich bereits im Jenseits. Er hat es mir nie offen gesagt , er wollte nicht, dass ich leide. Aber man wusste, auch ohne dass er es ausdrückte, was er sagen wollte: Mein Vater und Stefano leben nicht mehr."
Sind sie von der Cosa Nostra umgebracht worden? Und weshalb? Seit dem Verschwinden von Stefano und Antonio Majorana wurden in Sizilien mehrere Mafiosi festgenommen, Mitglieder des Clans von Matteo Messina Denaro, dem mächtigsten Mafiaboss, der in Sizilien nach wie vor auf freiem Fuß ist. Bei den Vernehmungen wurden sie stets nach den verschwundenen Majoranas befragt. Die Antworten blieben vage und ließen offen, ob Antonio und Stefano der Lupara Binaca zum Opfer gefallen sind. Die normale "Lupara" ist ein Jagdgewehr, die "weiße Lupara" dagegen ein Becken voll ungelöschtem Kalk. Eine todsichere Methode der Mafia, mit der sie schon viele ihrer Opfer spurlos beseitigt hat.
Dass die Mafia sich bisher nicht zum Tod der Majoranas bekannt hat, will nichts besagen. Solche Informationen sind ein wertvolles Kapital festgenommener Mafiosi. Oft erst nach Jahren fangen sie an, auszupacken und erhalten dafür als Kronzeugen Hafterleichterungen oder gar die Freilassung, wenn durch ihre Aussagen wichtige Verbrechen aufgeklärt werden. Ende letzten Jahres zum Beispiel meldete sich beispielsweise der geständige Mafioso Gasparre Spatuzza zu Wort, der, obwohl mehrfacher Mörder, in Freiheit unter falschem Namen lebt. Sein Clanchef habe ihm schon vor Jahren von einem Treffen mit wichtigen Persönlichkeiten berichtet, erklärte Spatuzza:
"Er nannte mir zwei Namen, einmal Berlusconi und ein weiterer, der aus Sizilien kommt, nämlich dell’Utri. "
Marcello dell’Utri ist Senator im römischen Parlament, rechte Hand von Regierungschef Berlusconi und bereits in zweiter Instanz wegen Zusammenarbeit mit der Mafia zu sieben Jahren Haft verurteilt. Gegen den Mafiaverdächtigen dell’Utri gibt es eine Menge Beweise nach Aussagen geständiger Mafiosi, die sich zum Teil auf weit zurückliegende Ereignisse beziehen, und erst langsam ein deutlicheres Licht auf die Veränderungen werfen, die die Cosa Nostra in den letzten knapp 20 Jahren vollzogen hat. Gewalttaten sind selten geworden. Die Bombenstrategie der Mafia Anfang der 90er-Jahre hat sich als Fehlschlag erwiesen. Die alten Bosse sind ausnahmslos in Haft. Die Geschäfte der neuen Mafia werden heute in besseren Kreisen abgewickelt, weiß Francesco Forgione, bis vor zwei Jahren Abgeordneter der kommunistischen Partei und Chef der Antimafia-Kommission des römischen Parlaments:
"Cosa Nostra und die anderen Mafiaorganisationen entwickeln sich immer stärker zu illegalen Wirtschafts- und Finanzunternehmen, deren Führer nicht mehr einfache Kriminelle sind, sondern heute eher einer gehobenen Mittelschicht angehören. Das hat dazu geführt, dass die Mafia heute mit eigenen Leuten vertreten ist in der Politik und in der Verwaltung."
Im Parlament sitzen heute mehrere Abgeordnete und Senatoren, die schwer belastet werden von geständigen Mafiosi. Während sie diese Zeugen als ferngesteuerte Lügner diskreditieren, pochen die auf sicheren Listenplätzen ins Parlament gewählten und mafiaverdächtigen Politiker auf ihr Recht, bis zur endgültigen Verurteilung als unschuldig zu gelten, trotz erdrückender Beweise in den beiden vorangegangenen Gerichtsinstanzen. Sich aus der Politik zurückzuziehen, wenn erhebliche Zweifel an ihrer Integrität bestehen, ist kein Thema für die italienischen Regierungspolitiker. Macht geht in Italien vor Moral, sagt Francesco Forgione, der heute als Universitätsprofessor "Soziologie des organisierten Verbrechens" lehrt:
"Es ist klar, dass bestimmte Kreise, die Berlusconi nahestehen, vor allem aber Marcello dell’Utri gemeinsame Sache mit der Cosa Nostra machten und heute noch mit ihr verstrickt sind. Während der letzten zwei Jahrzehnten der italienischen Republik gab es stets dauerhafte Verbindungen zwischen Mafia und Politik und ganz speziell zwischen Vertretern aus dem Lager Berlusconis und der Cosa Nostra."
Ein doppelter Zweck rechtfertigt dieses kriminelle Bündnis: Die Mafia sorgt für Wählerstimmen und den Machterhalt der ihr verbundenen Volksvertreter. Die wiederum treffen all jene Entscheidungen, von denen das organisierte Verbrechen profitiert. Die Staatsanwaltschaft von Palermo hat in den letzten Jahren dank Telefonüberwachung und versteckter Mikrofone Chefärzte, Notare, Anwälte und hohe Regionalbeamte als mächtige Mafiosi entlarvt, die mit öffentlichen Bauaufträgen die Taschen der Cosa Nostra füllten. In diesen Kreislauf aus Geld und Macht versuchen viele skrupellose Geschäftemacher einzusteigen. Die Mafia kontrolliert über die mit ihrer Hilfe gewählten Politiker den großen Geldtopf der öffentlichen Kassen und verteilt ihn gegen prozentuale Beteiligung an Bauarbeiten, Dienstleistungen und Warenverkehr. Der Umfang der vom organisierten Verbrechen getätigten Geschäfte wird alleine in Italien auf 200 bis 300 Milliarden Euro im Jahr geschätzt.
Wenn Antonio Majorana, versucht haben sollte, Geschäfte auf eigene Faust in einem von der Cosa Nostra kontrollierten System zu betreiben, dann dürfte an seinem gewaltsamen Ende kein Zweifel mehr bestehen. Auch dann nicht, wenn anonyme Anrufer Rosella Accardo nach wie vor davon überzeugen wollen, dass ihr Mann und ihr Sohn nicht tot sind, sondern im kolumbianischen Urwald leben, um dort den Rauschgifthandel im Auftrag der Cosa Nostra zu organisieren. Verwirrspiele dieser Art sind Teil der Strategie der Mafia. Falsche Fährten, die in Sackgassen führen, sind das tägliche Brot von Mauro. Von Beruf ist Mauro leitender Zivilfahnder der Staatspolizei, ein Caposquadra, ein Mafiajäger, der miterlebt hat, wie sich die Mafia in den letzten 20 Jahren radikal gewandelt hat:
"In früheren Zeiten waren die Mafiosi Hirten, die nur mit ihren Ziegen und Kühen redeten. Heute surfen sie im Internet, kommunizieren per E-mail, simsen mit drei, vier verschiedenen Handys gleichzeitig. Sie haben verstanden, dass es ihnen nicht gut tut, wenn sie sich wie Gewaltverbrecher benehmen und Leute umbringen, sondern dass es viel mehr bringt, wenn man sich an die führenden Politiker heranmacht, egal welcher Richtung. Wichtig ist zu wissen, wer die Macht in Händen hält, und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Wenn dir jemand auf die Füße tritt, überlass' das mir, ich bring' den schon zur Raison, wenn es sein muss auch mit Gewalt."
Mauro heißt nicht Mauro, und er darf eigentlich nicht mit Journalisten reden. Das Gespräch auf einem Autobahnparkplatz bei Palermo wurde arrangiert auf dem in Sizilien üblichen Wege: Freunde von Freunden haben den Kontakt hergestellt und nach unzähligen Telefonaten trifft man sich endlich an einem sicheren Ort. Mauro ist eher klein, 46 Jahre alt und seit über 20 Jahren Polizist. Inzwischen wohl auch frustriert. Oft haben seine Kollegen und er selbst ihr Leben riskiert, die Cosa Nostra aber existiert nach wie vor. Stolz ist er, dass er einige hundert Mafiosi hinter Gitter gebracht hat. Nur den Boss der Bosse, Matteo Messina Denaro, hat er bisher nicht geschnappt, aber das sei kein Wunder, denn der verfüge über Beziehungen zu höchsten Kreisen, sagt der Zivilfahnder Mauro:
"Andernfalls wäre es undenkbar, dass er seit 20 Jahren im Untergrund lebt. Es ist undenkbar, dass man ihn 20 Jahre lang verfolgt und immer noch nicht aufgestöbert hat."
Die Verbrecher der Mafia zu jagen, ist eine heikle Sache, verrät Mauro. Man müsse sich nämlich nicht nur vor der Mafia in acht nehmen:
"Das Problem ist nicht herauszufinden, wer ein Mafioso ist, sondern von wem er politische Deckung erhält. Man muss sich weniger vor der Mafia in Acht nehmen, die ohne Befehle von ganz oben niemanden mehr umbringt. Man muss sich in Acht nehmen vor den eigenen Kollegen, vor manchem Vorgesetzten oder Freunden von Kollegen, die als Zuträger für jene Politiker arbeiten, die wiederum Einfluss auf die Mafia nehmen."
Das bedeutet, dass die Mafia letztlich auch im Polizeiapparat über Mittelsmänner verfügt. Ein schwer durchschaubares Verwirrspiel. Rosella Accardo ist den Verdacht nie losgeworden, dass die Polizei nicht ernsthaft genug ermittelt hat. Bis heute hat sie keinen Einblick in die Akten bekommen. Solange kein Mafioso die Tat gesteht oder die Leichen nicht gefunden werden, habe Rosella kein Recht auf polizeiliche Informationen, ist die Begründung. Denn formal bestehe die Möglichkeit, dass ihr Sohn und ihr Ex-Ehemann aus freien Stücken irgendwo auf der Welt ein neues Leben begonnen haben. Der Einzige, der etwas ahnte, aber nie reden wollte, hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Rosellas jüngerer Sohn Marco hat Anfang letzten Jahres aus unerfindlichen Gründen Selbstmord begangen. Aber auch da ist sich die leidgeplagte Mutter nicht sicher. Ihre letzte Trumpfkarte, der offene Brief an den flüchtigen Mafiaboss Matteo Messina Denaro, einen Mörder und Drogenhändler, ist als offensiver Schachzug gedacht: Es ist die Bitte einer leidenden Mutter um einen Fingerzeig, ein Ja oder ein Nein, um endlich zu wissen, ob es noch Hoffnungen gibt oder nicht. Rosella glaubt, dass der Boss über das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen informiert ist:
"Matteo Messina Denaro ist ein sehr intelligenter Mensch. Ich habe kein Interesse daran, dass er ein Risiko eingeht, um mir eine Botschaft zukommen zu lassen. Aber ich würde sehr gerne einen Dialog mit ihm aufnehmen. Er ist Vater, dem es verwehrt ist, seine Tochter großzuziehen, so wie es mir nicht vergönnt ist, meinen Sohn bei mir zu haben."
Das klingt sehr pathetisch, aber Pathos ist ein ebenso wichtiger Wesenszug der Sizilianer wie die Ehre. Von ihrem Großvater habe sie als Kind gelernt, dass die Mafia einmal eine ehrenwerte Gesellschaft gewesen sei, in der die Werte der Familie hochgehalten wurden und Frauen und Kinder absoluten Schutz genossen:
"Die wirkliche Mafia gibt es eigentlich nicht mehr, sondern nur Verbrecher, die mit der Politik unter einer Decke stecken, ein Triumvirat, zu dem auch die Kirche ihren Beitrag leistet. Politische und religiöse Macht und organisiertes Verbrechen, das als Handlanger fungiert nach der Regel: Wer nicht mitmacht, ist ein toter Mann."
Aber vielleicht habe der Boss Matteo Messina Denaro ja noch einen Funken Ehre im Leib und lasse sie wissen, ob sie Ruhe finden und ihre Angehörigen wenigstens in Gedanken beerdigen kann.