Eine höfische Traumwelt in den Tropen
09:40 Minuten
Sans Souci steht nicht nur in Potsdam: Der haitianische König Henri Christophe errichtete im frühen 19. Jahrhundert mitten im Regenwald ein Schloss nach preußischem Vorbild. Nach einem Erdbeben erzählen heute nur noch Ruinen von dieser Geschichte.
"Wir stehen hier vor dem Palais Sans Souci", erklärt der Historiker Gabart Dolciné. "Von hier aus können Sie die ehemaligen Kasernen sehen. Da drüben war das Gefängnis, hier ist das königliche Schwimmbad mit seiner Fontäne. Das Wasser kam aus den Bergen und bewässerte zugleich den königlichen Blumengarten."
Nein, von Dolcinés Sans Souci aus sieht man nicht auf Kasernenbauten in Potsdam, nicht auf die ehemalige Preußenresidenz am Rande Berlins.
Das "vergessene Potsdam im Regenwald"
Gabart Dolciné ist Direktor des Geschichtsparks Sans Souci in der ehemaligen königlichen Residenzstadt Milot, unweit der Nordküste von Haiti. Kunsthistoriker bezeichnen den etwas surreal wirkenden Ort als "vergessenes Potsdam im Regenwald".
Ein Erdbeben hat Haitis Schloss Sans Ssouci, das vom kreolischen Baumeister Joseph Farraud entworfen und 1813 realisiert wurde, 30 Jahre nach Fertigstellung stark beschädigt. Nur eine der ursprünglich 15 Marmorstatuen im Palastgarten ist verschont geblieben – es ist die Göttin der Komödie, Thalia, die diesen märchenhaften Ort bis heute im Blick behält.
"Ein Symbol unseres Stolzes"
Unter dem mehr als 200 Jahre alten Milchapfelbaum, an dessen Ästen König Henri Christophe Straftäter als abschreckendes Beispiel hängen ließ, grasen heute Ziegen.
"Stellen Sie sich vor, wie schön dieser Palast Anfang des 19. Jahrhunderts war! Er war nicht nur Residenz und Verwaltungssitz des Königs, sondern auch als Repräsentationsbau gedacht für Besuch aus Europa. Man wollte zeigen, zu was ehemalige Sklaven in der Lage waren. Für uns Schwarze ist das ein Symbol unseres Stolzes. Die Festung und das Palais sind die aufwendigsten von ehemaligen Slaven errichteten Bauwerke der Welt."
1767 kam Henri Christophe als Sohn ehemaliger Sklaven auf der britischen Karibikinsel Grenada zur Welt. Als Kabinenjunge der französischen Marine geriet er nach Saint Domingue, dem heutigen Haiti.
Er wurde als Stallbursche und Küchenhilfe angestellt, zog für die Franzosen in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und wurde später zum Maître d’Hôtel in einer Herberge mit dem verheißungsvollen Namen "Auberge de La Couronne" – "Gasthaus zur Krone."
Die Kolonialmächte erkannten den Staat nicht an
Seine eigentliche Bestimmung fand Henri Christophe später im Kolonialkrieg gegen Kaiser Napoleon, nach dessen Ende Haiti 1804 zum ersten freien Sklavenstaat der Weltgeschichte wurde.
"In all diesen Kämpfen tat sich Christophe hervor als brillanter Militärstratege, der eine sehr gute, disziplinierte Truppe hatte und sich dann selbstständig machte und im Norden ein Königreich gründete", berichtet der Autor und Haiti-Kenner Hans Christoph Buch. "Warum ein Königreich? Er glaubte, dadurch bei den Alliierten, Russland, England, Preußen und Österreich natürlich, Türen zu öffnen, indem er eine Monarchie gründete, wo er selbst unter dem Namen Henri Christophe Monarch wurde."
Der schwarze König Henri Christophe, der sich auch Henri I. nennen ließ, wollte sein Herrschaftsgebiet zu einem den europäischen Königshäusern ebenbürtigen Reich etablieren.
"Er erließ eine monarchische Verfassung nach dem Modell westlicher Staaten und schickte diese Verfassung zur Kenntnisnahme nach Berlin, London und Petersburg. Keine dieser Regierungen hat geantwortet. Denn das war für die damalige Zeit eine Ungeheuerlichkeit: eine Kolonie, in der ein neuer Staat gegründet wird und dann ein schwarzer König regiert, ein Afrikaner. Das wollte keine dieser Mächte anerkennen."
Größer als das Original in Potsdam
Tatsächlich ahmte Henri Christophe mit größter Akribie die höfische Kultur Europas nach. Unter seinen Gefolgsleuten verteilte er Adelstitel: Vier Prinzen, acht Herzöge, 22 Grafen, 36 Barone und 14 Chevaliers und zahllose niedere Ränge bildeten die Aristokratie in Haitis erstem Königreich. Der Monarch erließ eine strenge höfische Kleiderordnung – bei Temperaturen von über 40 Grad Celcius ein zweifelhaftes Privileg, könnte man meinen.
Gabart Dolciné, der Historiker des Geschichtsparks Sans Souci, weist inmitten der Palastruine auf die Überreste von gemauerten Wasserkanälen:
"Hier ist der Hauptwasserlauf aus den Bergen, der über Drainagen in alle Zimmer des Palastes geleitet wurde, um sie kühl zu halten. Das System fungierte damals als Klimaanlage. Ein weiterer Teil des kanalisierten Wassers wurde über die Fontäne hier in diese Becken geleitet. Am Morgen, wenn sich die Sonne im Wasser spiegelte, konnte niemand erkennen, was in oder vor dem Palast vor sich ging. Man musste sich dem Palast mit geneigtem Kopf nähern. Es ging dabei um die Sicherheit der Königsfamilie."
Neben einer verwirrenden Anzahl von Kostümen mit Goldstickereien, Epauletten und Federbüschen ließ Henri Christophe Kronjuwelen, Medaillen und Münzen anfertigen und schuf ein ausgefeiltes Zeremonialsystem. Ein riesiger Thronsaal, vier Bankettsäle, Audienzräume, Bibliothek, Studier- und Badezimmer, die Gemächer des Königs, seiner Gemahlin und der zwei Prinzessinnen im Obergeschoss, dazu zahlreiche Verwaltungs- und Nebengebäude.
Das haitianische Sans Souci stellt in seinen Dimensionen das Potsdamer Original in den Schatten und wirkt wie das Wolkenschloss einer höfischen Traumwelt in den Tropen.
Kein "Voodoo-Schloss"
Seit 1982 gehört Henri Christophes Ensemble zum Weltkulturerbe. Im UNESCO-Bericht heißt es mit einem Anflug kolonialer Überheblichkeit:
"Der barocke Treppenaufgang und die klassischen Terrassen, die gestuften Gärten, die an Potsdam und Wien erinnern, die Kanäle und Bassins, die frei an Versailles angelehnt sind, verleihen der Schöpfung des megalomanen Königs eine undefinierbare, halluzinatorische Qualität."
Dabei war König Henri I. mitnichten nur ein egozentrischer Monarch, und auch war sein Palast kein "Voodoo-Schloss", wie die New York Times noch in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts behauptete.
Haitis erster König baute Krankenhäuser und entwickelte ein kostenloses Gesundheitswesen. Er gründete Berufs- und Militärakademien, führte die allgemeine Schulpflicht ein und sorgte durch die Aufrechterhaltung der Plantagenwirtschaft und den Export von Mahagoniholz zumindest eine Weile lang für Haitis wirtschaftliches Überleben.
"Ein großer Mann soll seinen Ruhm nicht überleben"
Die ehrgeizige politische Vision für sein Königreich, das er möglichst bald mit dem abgespaltenen Süden verbinden wollte, wurde Henri Christophe 1820, nur neun Jahre nach seiner Selbstkrönung, zum Verhängnis.
"Da war das Thronzimmer. Darüber, im zweiten Stock, lag das Zimmer, in dem sich der König am 8. Oktober 1820 mit einer silbernen Kugel erschoss", erklärt Gabart Dolciné als er in einem der vier ehemaligen Bankettsäle des Schlosses steht und nach oben in den offenen Himmel weist.
"Einige Monate zuvor hatte Henri Christophe einen Herzinfarkt erlitten und war seitdem linksseitig gelähmt, was die Rebellen aus dem Süden zum Angriff ausnutzten. Als sie auf dem Weg in den Palast waren, wollte Henri Christophe sich auf sein Pferd schwingen, aber war dazu schon nicht mehr in der Lage. Also stieg er in sein Zimmer im zweiten Stock. `Ein großer Mann soll seinen Ruhm nicht überleben. Wenn sein Stern beginnt zu verblassen, muss er verschwinden.´ Diese Worte soll er gesagt haben, bevor er sich erschoss."
Wie kein anderer Ort künden Henri Christophes Festung und sein Palais Sans Souci von einer Zeit, in der Haiti zu Recht für sich eine weltgeschichtliche Vorreiterrolle in Anspruch nahm. Bis heute ist hier im tropischen Regenwald Haitis sehr anschaulich nachzuerleben, was der kubanische Autor Alejo Carpentier einmal die "Magie eines der dramatischsten und merkwürdigsten Aufstände der Geschichte" nannte.