Schmerz als Grundkomponente des Lebens

Rezensiert von Carolin Fischer |
In seinem Epos erzählt Ugo Riccarelli die Schicksale der beiden Familien Bertorelli und Maestro vom Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zum Wirtschaftswunder. Er zeigt, wie sich die Zeiten und die Menschen verändern, aber der Schmerz und das Leid immerzu eine große Rolle im Leben spielen.
Der Titel dieses Romans wirkt äußerst pathetisch, und ist doch zutreffend. Denn das Leben der beiden Familien, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, ist von vielfachem Leid geprägt. Allerdings erscheint der "vollkommene Schmerz", der im Text immer wieder genannt wird, als selbstverständlicher Teil der conditio humana, die er gerade durch seine Vollkommenheit adelt.

Dabei geht es einerseits um menschliche Einzelschicksale, andererseits gelingt es dem Autor, sowohl die politische wie die sozioökonomische Entwicklung im Mikrokosmos seiner Figuren widerzuspiegeln, wobei er uns durch einen langen, bewegten Abschnitt der italienischen Geschichte führt, und zwar vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nach der Einigung des Landes bis hin zum Wirtschaftswunder.

Stellvertretend für letzteres stehen die Bertorellis. Der früh verstorbene Odysseus Bertorelli, Vater der Protagonistin Annina, war zuerst ein gerissener Schweinehändler, der noch täglich selbst mit dem Karren auf die Märkte zog. Später bringt er es mit seinen Brüdern zu einer Großmast, bis einer von ihnen erkennt, dass die Zukunft bei den Maschinen liegt und Automobile baut. Als er merkt, dass seine Produktionsstätten dem Stand der Technik nicht mehr entsprechen, sattelt er auf Pumpen um, die gebraucht werden, um das Sumpfgebiet trocken zu legen.

So zeigt Ugo Riccarelli, wie die Zeiten und selbst die Landschaft sich verändern, während der vollkommene Schmerz eine Grundkomponente des menschlichen Lebens bleibt, denn der beruflich erfolgreiche Odysseus verzweifelt an der Ablehnung seiner Frau, und viele Kinder der Familie sterben in den Weltkriegen, an der Spanischen Grippe oder werden Opfer des Faschismus, obwohl Telemach, ein Bruder von Odysseus, unter Mussolini zum Bürgermeister des Städtchens Colle, des Ortes des Handlung, avanciert.

Den Gegenpol bildet die Familie des Maestro, des anarchistischen Lehrers, der als einer der ersten mit der noch im Bau befindlichen Eisenbahn in Colle ankommt. Er findet ein Zimmer bei der Witwe Bartoli, deren Mann beim Verlegen der Schienen ums Leben gekommen war. Sie schenkt dem Fremden bald ihr Herz und zieht die gemeinsamen Kinder groß, bis auch sie unter die Räder eines Zuges gerät.

Dem traurigen Los des Maestro und seiner Söhne, er verbringt lange Jahre im Gefängnis und wird schließlich bei Unruhen erschossen, wohingegen sie nach seiner Verhaftung in die Armee oder die Erziehungsanstalt müssen, setzt der Autor die idealisierte vorurteilsfreie Solidarität der Dorfbewohner gegenüber.

Ausgerechnet in den jüngsten, nach dem Anarchisten Carlo Cafiero benannten, Sohn Cafiero verliebt sich Annina Bertorelli, wie dieser früh verwaist. Zwar gelingt es ihr, ihrem Onkel Telemach das Einverständnis zur Hochzeit abzuhandeln, doch ihr Glück wärt nicht lange, denn die sozialen und politischen Differenzen sind zu groß.

Allerdings verdrängt diese Dimension des Romans keineswegs die individuellen Schicksale aus dem Vordergrund. Dies liegt zweifellos an der alles überwindenden Kraft, die Riccarelli der Liebe zuschreibt sowie an seinem oftmals märchenhaft-poetischen Sprachduktus. Der wiederum findet eine inhaltliche Entsprechung in der zentralen Rolle, die dem Erzählen in diesem Buch zukommt, als lebendige Erinnerung aber sogar als Rettung in lebensbedrohlichen Situationen, wobei der Schmerz nie ausgespart bleibt.

Für diesen Roman erhielt Ugo Riccarelli den Premio Strega, eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen Italiens, nachdem er bereits mit seinem Debüt, das er 1995 im Alter von einundvierzig Jahren veröffentlichte, einen Literaturpreis gewonnen hatte.

Ugo Riccarelli: Der vollkommene Schmerz.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Zsolnay 2006
416 Seiten, 23,50 Euro