Schmerzhafte Erinnerungen

17.06.2010
Boston, November 2000. Alexander Iwanow, ein eleganter Herr Ende 60, ist dabei, sein florierendes Catering-Unternehmen zu verkaufen. In dieser Umbruchszeit kommen schmerzhafte Erinnerungen an sein früheres Leben als junger Regierungsbeamter in der Sowjetunion wieder auf, an seine Ehe und den frühen Tod seiner Frau Katja, an seine Emigration.
Katja war seine große Liebe, und nach 40 Jahren hat er ihren gewaltsamen Tod noch nicht verwunden, noch hat er aufgeklärt, was damals wirklich geschehen ist. Um die Aufklärung der vergangenen, noch heute nachwirkenden Ereignisse geht es in dem spannenden und psychologisch raffinierten Roman.

Die Geschichte Alexanders wird auf zwei Zeitebenen entwickelt. In die Episoden aus dem Jahr 2000 (USA) werden geschickt die Rückblicke auf Moskau in den späten 1950er-Jahren verwoben, auf die Zeit nach Stalins Tod, in der Chruschtschows Reformen Hoffnung auf eine Änderung der unerträglichen Lebensverhältnisse weckte, ohne sie wirklich dauerhaft erfüllen zu können.

Der Roman präsentiert nicht nur Alexanders Perspektive, auch wenn er im Mittelpunkt des Geschehens steht. Als Leserin erfährt man folglich zuweilen mehr, als Alexander zu dem Zeitpunkt selbst wissen kann: Katja verrät ihn, denn sie arbeitet als Spionin für die Regimegegner. Alexanders und Katjas bester Freund Mischa ist der Drahtzieher und setzt Katja unter Druck, als sie längst mit ihrem Gewissen diesen Verrat nicht mehr vereinbaren kann. Alexander wird also doppelt verraten ...

Schließlich gesteht Katja Alexander ihr Doppelleben und überzeugt ihn zugleich davon, dass sie beide das Land verlassen müssen, weil sie in Lebensgefahr schweben. Er kann mit einer offiziellen Delegation ausreisen und in den USA die Seiten wechseln. Sie will ihm mithilfe ihrer politischen Verbindungen sofort danach folgen. Aber sie kommt nie: Sie wird getötet. Alexander fühlt sich an ihrem Tod auch 40 Jahre später noch schuldig.

Im Jahr 2000 sind es Alexanders Nichte Lauren und die 61-jährige Professorengattin Estelle, die den widerstrebenden Alexander immer wieder zum Erzählen seiner Erinnerungen bewegen. Schließlich reist Lauren mit ihrer Freundin nach Moskau, um herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist. Und was sie herausbekommt, als sie endlich den noch lebenden Mischa findet und zum Sprechen bringt, ist schlimmer als alles, was sie oder Alexander befürchtet haben.

"Das Leben, von dem sie träumten" ist eine Geschichte von Liebe und vom systematischen Verrat der Nächsten und Engsten. Es ist aber auch eine Geschichte von Treue und Loyalität, von Stärke und Mut. Und von Hoffnung. Alexander verzweifelt, als er die Wahrheit hört. Aber er überlebt auch das. Und er ist endlich imstande, die Vergangenheit loszulassen und nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich in der Gegenwart und in den USA anzukommen.

Wie schon "Die verborgene Welt" ist auch "Das Leben, von dem sie träumten" ein Roman zwischen Welten und Kulturen. Zugleich Spionageroman, psychologischer und zeitgeschichtlicher Roman, Liebesgeschichte und Krimi: Spannend, flüssig erzählt (und ebenso übersetzt), lässt der Roman in die Atmosphäre zur Zeit des Kalten Krieges ebenso eintauchen wie in die facettenreiche Welt der Jahrtausendwende, entwirft er - nicht zuletzt in den Dialogen - lebendige Charaktere und überzeugende Beziehungsporträts. Ein packender Roman über die menschliche Fähigkeit zum Bösen und zum Guten.

Besprochen von Gertrud Lehnert
Shamim Sarif: Das Leben, von dem sie träumten. Roman.
Aus dem Englischen von Andrea Krug
Verlag Krug & Schadenberg, Berlin 2010
367 S., Euro 22,90